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Archiv-Artikel

PRESS-SCHLAG Der unerwartete Kampf mit sich selbst

MYSTERIUM Wie aus einem 4:0 nur ein 4:4 werden kann? Eine Annäherung aus der Freizeitliga

Wir ergeben uns in unser Schicksal, eine peinliche Niederlage kassiert zu haben

Es gibt Fußballspiele, die vergisst man nie: weder als Zuschauer noch als Spieler. Das für viele Beobachter mysteriöse 4:4 der deutschen Nationalmannschaft gegen Schweden gehört sicher dazu. Es ist zwar selten, dass Fußballteams einen 4:0-Vorsprung noch herschenken, aber unerwartet sind überraschende Wendungen auch nicht. Ich spreche da aus Erfahrung als Freizeitkicker – und denke konkret an ein Spiel vor einigen Jahren, das ich nie vergessen werde: 3:5 nach 3:0 bis zur 60. Minute! Und zwar ohne dass es rote Karten oder verletzungsbedingte Auswechslungen gegeben hätte. Unfassbar, aber wahr! Wer das erlebt hat, versteht vielleicht, was mit den deutschen Kickern in Berlin passiert sein könnte.

Seit über zehn Jahren spiele ich in einer Berliner Freizeitliga, aber dieses 3:5 bleibt nahezu einmalig. Es war ein Spiel mitten in der Saison, wir waren im Abstiegskampf und hatten schon einige Partien chancenlos verloren. Bei diesem Spiel schien dann alles besser zu laufen.

Überraschenderweise haben wir den Gegner aus dem Tabellenmittelfeld in der ersten Halbzeit voll im Griff: Unsere Abwehr steht solide, im Mittelfeld kombinieren wir ordentlich nach vorn, und die Stürmer zeigen ungeahnte Effektivität. So schießen wir eins, zwei, drei Tore bis zur Pause. Ich kann mein Glück kaum fassen, als wir vom Platz laufen, und mein Verteidigerkollege pflichtet mir bei: „So was Geiles hatten wir lange nicht!“

In der Kabine warnt der Kapitän: „Wir müssen konzentriert und engagiert bleiben!“ Aber hören wirklich alle zu? Denn nach der Pause ist es ein anderes Spiel: Wir spielen nachlässig, unsere Dominanz ist plötzlich weg, der Kick plätschert vor sich hin.

In der 60. Minute schießt der Gegner das erste Tor, 3:1, ein Treffer aus dem Nichts. Zuerst denke ich mir nicht viel dabei, aber plötzlich glaubt der Gegner an sich und wird stärker. Ich kriege weiche Knie: Wir werden diese Partie doch nicht mehr aus der Hand geben? Ist es selbst erfüllende Prophezeiung, reine Psychologie oder dummer Zufall? Wie dem auch sei: Wir verlieren den Faden. Hinten häufen sich Unsicherheiten, und vorne wird versucht, mit Kopf-durch-die-Wand-Fußball den alten Abstand wiederherzustellen, was aber meist nur Ballverluste bringt.

Dann die Schlüsselszene in der 70. Minute: Wir haben eine Großchance zum 4:1 – und vergeben sie. Im direkten Gegenzug spielt der Gegner blitzsauber nach vorn – und macht das 3:2. Die Folge: Der Gegner ist im Aufwind, wir sind völlig verunsichert. „Köpfe hoch und kämpfen!“, brüllt der Kapitän. Aber wenn überhaupt, kämpft jeder mit sich. Wenig später fällt schon der Ausgleich nach einer Ecke. Wer hat denn da geschlafen, ärgere ich mich. Auch die anderen von uns sind sauer und maulen sich gegenseitig an.

Die Mannschaft zerfällt. Die einen wollen den Sieg, den wir ja gefühlt schon irgendwie hatten, mit aller Macht holen und greifen ungestüm an; die anderen wollen den Punkt festhalten – die einen sind vorn, die anderen hinten. Und in der Mitte ist ein riesiges Loch, das der Gegner zu nutzen versteht und rasch zwei Tore schießt: 3:5 bis zur 80. Minute.

Noch ist nichts verloren, noch sind zehn Minuten zu spielen – aber wir sind wie gelähmt. Keine Kraft mehr, kein Aufbäumen, nichts. Wir ergeben uns in unser Schicksal, eine peinliche Niederlage kassiert zu haben. Ein Scheißtag.

Ich denke, Deutschland hatte beim 4:4 Pech und Glück in einem: Pech, dass der Ausgleich überhaupt noch fiel, und Glück, dass er so spät fiel. Andernfalls hätte schon der nächste Schwedenangriff das 4:5 bringen können. Die Kurve hätte jedenfalls keiner der deutschen Spieler mehr gekriegt. RICHARD ROTHER