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Archiv-Artikel

Das Ende der Arbeitsreligion

Das Lob der Arbeit kann künftig nicht mehr das A und O der linken Welterklärung seinOhne Arbeit kein menschenwürdiges Dasein – das war die Parole von gestern. Und heute?

von WOLFGANG ENGLER

Die Orientierungsnöte der (europäischen) Linken erwachsen unmittelbar aus ihrer historischen Leistung. Den von ihr inspirierten und organisierten Kämpfen ist es wesentlich zu danken, dass die Lohnarbeit nach und nach aufhörte, ein kollektiver Fluch zu sein, dass sie auskömmlich und respektabel wurde. Es war vornehmlich die Linke, die um Löhne stritt, die Wachstums- und Produktivitätsgewinne zumindest anteilig realisierten, die den Kampf um die Verkürzung des Arbeitstages anführte und das Arbeitsverhältnis mit sozialen Garantien versah. Der Bruch mit der Proletarisierung und Pauperisierung der arbeitenden Massen sowie die Geburt der „bürgerlichen Form“ der Lohnarbeit (Robert Castel) sind unbestreitbar ihr Verdienst.

Dass dieses Jahrzehnte währende und letztlich erfolgreiche Ringen um eine Zivilisierung der Arbeits- und Lebensweise der werktätigen Mehrheit ein positives, mitunter geradezu überschwängliches Verhältnis zur Arbeit, zum Lohnarbeit leistenden Menschen begründete, ist nur allzu verständlich. Bislang hat noch jede große historische Bewegung ihre Erfolge glorifiziert, verklärt. Arbeit ist nicht alles, aber ohne Arbeit kein gelungenes Leben, keine wirkliche und aktive Einbeziehung des Menschen in die Gesellschaft – das ist das A und O der linken Welterzählung.

Zwar anerkannte die politische Linke, würdigten insbesondere deren theoretische Wegbegleiter, ein Leben und eine Freiheit nach der Arbeit, jenseits des Dienstes am Notwendigen, aber der hauptsächliche Akzent lag (und liegt) auf der Befreiung des Menschen in der Arbeit, durch Arbeit. Die historische Linke hatte die Emanzipation des Menschen der Unterschicht durch eine Aufwertung der Arbeit bewerkstelligt, und zwar in jeder Hinsicht, moralisch, materiell, sozial, und dieses Fazit halten ihre heutigen Erben fest. Alle, die das wollen oder nötig haben, sollen ihr Leben durch Arbeit begründen können; durch eine Arbeit, die das Leben ökonomisch trägt und das Individuum langfristig in die Gesellschaft eingliedert; durch „gute“ Arbeit statt durch bloße Jobs.

Genau hier liegt das gegenwärtige Problem. Die programmatische Fixierung der Linken auf die „gute“ Arbeit als gesellschaftliches Entree wird durch die Verhältnisse nicht länger unterstützt. Die noch immer voranschreitende Differenzierung und Segmentierung der Arbeitsverhältnisse verriegeln diese uniforme Eingliederungspolitik. In einer ganzen Reihe von Professionen und Sektoren gelangte die „bürgerliche Form“ der Lohnarbeit zu neuer Blüte, dominieren gut ausgebildete und anständig bezahlte Mitarbeiter. Parallel dazu vollzog sich eine Trivialisierung ganzer Beschäftigungsfelder, man denke nur an das altehrwürdige Bäckerhandwerk. Vollzeitstellen, obzwar noch immer vorherrschend, weichen mehr und mehr Teilzeitarbeitsplätzen, die, der trivialisierten Arbeit darin gleich, an Löhnen sparen. Einschneidender noch als diese der Arbeitswelt immanenten Unterscheidungen ist die Grenzlinie zwischen Insidern und Outsidern, zwischen ökonomisch als nützlich anerkannten und für überflüssig erachteten Personen. Jenseits dieser Grenze siedelt das Leben in seiner alltäglichen Misere und Verwundbarkeit; das Leben derer, die Erwerbsarbeit als Episode registrieren oder ganz abseits stehen.

Die Parole der historischen Linken – „der Mensch wird durch Arbeit zum Menschen“ – verhallt in einem verzerrten Echo: Für alle reicht die „gute“ Arbeit nicht. Weder besorgt die Einbeziehung ins Erwerbssystem gleichsam automatisch die gesellschaftliche Integration, wie jede(r) working poor schmerzlich erfährt, noch scheint der Arbeitsmarkt perspektivisch imstande, all jene aufzunehmen, die derzeit von ihm ausgeschlossen sind. Wahrscheinlich ist das glatte Gegenteil. Der technisch-technologische Fortschritt wird künftig ebenso wenig erlahmen wie die durch Konkurrenz angespornten betrieblichen Rationalisierungsprozesse, und der Konkurrenzkreis selbst dürfte an Umfang im Zukunft noch gewinnen.

Zu Beginn des Industrialisierungszeitalters war England der unumstrittene Werkmeister der Welt, zu Zeiten der Hochindustrialisierung beanspruchte bereits ein Dutzend so genannter entwickelter Nationen diesen Titel, gegenwärtig sind es ihrer Dutzende. Sie alle „wildern“ zunehmend in denselben Revieren, drängen auf dieselben Märkte, mit desto größerer Erfolgschance, je qualifizierter und einstweilen anspruchsloser die jeweiligen Bevölkerungen sind. Wer in den klassischen Industrienationen wollte da ernstlich eine Garantieerklärung zugunsten „ordentlicher“ Arbeit für jede und für jeden, jetzt und immerdar, riskieren?

Was also tun? Die Fixierung auf die „gute“ Arbeit fahren lassen, Wasser predigen statt Wein, Arbeitsverschnitt im Umlauf setzen nach der Maxime: „Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit!“? – Das wäre das Ende linker Politik und eine neuerliche Probe auf die alte Weisheit, dass links just dort ist, wo der Daumen rechts sitzt.

Oder vielleicht doch besser festhalten an erprobten und einst erfolgreichen Rezepten in Form einer Neuauflage des Kampfes um die Verkürzung des Arbeitstages? – Man sollte diese Strategie nicht von vornherein verloren geben, aber die veränderten Kräfteverhältnisse nüchtern in Rechnung stellen. Die vor allem großen Unternehmen durch die Globalisierung gleichsam in den Schoß gefallene Exit-Option macht weite Teile der Arbeitnehmerschaft gefügig und erlaubt dem Kapital, sich Mehrarbeit zu seinen Konditionen anzueignen, durch die flexible Ausnutzung einer gegebenen Belegschaft.

Ließe sich die „gute“ Arbeit womöglich durch eine Verknappung des Arbeitsangebots retten, durch steuerfinanzierte Frühverrentung, Vorruhestand in großem Stil? – Das schien noch kürzlich eine (wenn auch defensive) Lösung. Derweil ist sie aus Kosten- wie aus anderen Gründen in Verruf geraten, in England, den Niederlanden und auch in Deutschland.

Die derzeit klügste Lösung kommt aus Skandinavien, in Gestalt von sabbaticals, periodischen Wechseln zwischen Arbeits- und Freizeiten, welche Letztere bis zu drei Jahren währen können und aktuell Außenstehenden eine befristeten, aber doch lohnenden Wiedereinstieg ins Erwerbsleben eröffnen. Unter den Bedingungen der Lohnarbeitsgesellschaft ist das der humanste Umgang mit schwindendem Gesamtarbeitsvolumen.

Er setzt allerdings einen großen gesellschaftlichen Konsens voraus, der dem arbeitsfreien Dasein (auf Zeit) wieder Würde zuerkennt und Perspektive gibt, und exakt daran fehlt es im Deutschland dieser Tage. „Vorfahrt für Arbeit!“, „Sozial ist, was Arbeit schafft!“, „Arbeit soll das Land regieren!“ blökt es aus allen Lagern, auch den linken – als verkörperte Arbeit, selbst minder abgefundene und anspruchslose, das schlechthin Gute!

Wie wäre es, stattdessen, mit einer subversiven Offensive? Wenn man Stellungen, die nicht zu halten sind, geordnet räumte, und sich zugleich um die Einrichtung neuer Widerstandslinien bemühte? Wenn man mit aller Entschiedenheit für eine Vorverlagerung des Grabensystems sozialer Garantien kämpfte? Staatlicher Schutz und staatliche Regulierung konzentrierten sich dann weniger auf die Arbeit, die Arbeitsverhältnisse (durch Mindestlöhne, Kündigungsschutz etc.) und in weit höherem Maße als heute auf das, was der Arbeit vorausgeht, auf das „Leben“, die Subsistenzverhältnisse.

Eine auskömmliches, nicht wiederum an Arbeit gebundenes Grundeinkommen, ein Bürgergeld, bedeutete einen wirklichen Bruch mit dem Einheitsdenken im Bann der Arbeitsreligion. Sie definierte ein historisch variables menschliches Maß, das alle anderen Maßverhältnisse regierte. Von hieraus ergäben sich die Mindestsätze für das Ruhegeld sowie für die Bezüge der unteren Lohngruppen, nicht umgekehrt.

Gesetzt, das menschliche Maß wäre gesetzlich dekretiert, käme der Markt gar nicht umhin, Arbeitsverhältnisse und Arbeitsentgelte so zu regulieren, dass sie tatsächlich zur Arbeit motivieren. Die ideologische Keule der Liberal-Konservativen, die so viele Kritiker in die Knie gezwungen hat („Arbeit muss sich endlich wieder lohnen!“) könnte nun auf deren Häupter niederfahren. Auch gibt es keine Grund zur Scham, weder bei denen, die sich für Transfereinkommen ohne Arbeit einsetzen noch bei den Empfängern. Sofern die „Finanziers“ keine einschneidende Verluste erleiden und das Geld denen zugute kommt, die es ausgeben müssen, ist Umverteilung makroökonomisch sogar geboten. Geld, das ansonsten schliefe, fließt in die Konsumtion und spornt den Werkfleiß an.

Der Emanzipation des Arbeiters zum Bürger die Emanzipation des Bürgers vom Arbeiter folgen zu lassen, ist das der neuen Linken aufgetragene Projekt. Das bedeutet zweierlei: materielle Sicherung und kulturelle Befähigung zu einem Leben ohne Arbeit. Arbeitsfreies Dasein auf gesichertem Grund zeugt das sozial aktive Leben nämlich nicht aus sich heraus. Nur Menschen, die gelernt haben, sich selbst zu orientieren, mit anderen etwas zu unternehmen, auch ohne Stelle im Erwerbssystem, sind reif genug, um Neuland zu betreten. Wenn der „Beruf“ das Leben in seinen Abläufen nicht länger organisiert, dann wird das Leben zum Beruf, und dafür braucht es Übung.

Wer das grundsätzlich für unmöglich hält, weil er im Menschen eine von Natur aus träge Masse sieht, die nur der Arbeitszwang ins Laufen bringt, ist entweder ein Snob oder ein unverbesserlicher Calvinist.