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Archiv-Artikel

Route 66

SEENLANDSCHAFT Die Wende hat vor allem den Westberlinern Auslauf gebracht und schöne Natur für Ruderer, Kanuten und Wanderer. Eine Tour auf dem 66-Seen-Weg rund um Berlin

Seen ohne Ende

Was der Osten dem Westen gebracht hat? Seen. Seen ohne Ende. Und die haben es Manfred Reschke schon zu DDR-Zeiten angetan. „Für Westberliner gab es in den Siebzigerjahren eine Passagierscheinregelung zum Besuch der DDR. Das haben wir damals gemacht, und wir fanden die Gegend um Berlin so schön, dass wir immer weitergewandert sind. Mit einem Tagesvisum konnte man sich nicht so weit von der Stadt entfernen. Und so haben wir in Tagesausflügen die Stadt einmal umrundet“, erzählt der Autor des Reiseführers „Die 66-Seen-Wanderung“. „Als ich dann in Pension ging, habe ich 1998 diese alte Idee noch einmal aufgegriffen. Ich wollte versuchen die attraktivsten Punkte des Weges zu verbinden. Das habe ich dann innerhalb von zwei Jahren als Langzielausflugsprojekt entwickelt.“

Inzwischen ist Reschkes Buch der Bestseller beim Trescher Verlag. Sternenförmig führt der Weg um Berlin. Man kann sich die Teilstrecken – es sind 17 Etappen – wie ein Kuchenstück herausschneiden und tageweise wandern: durch Märkische Heide und märkischen Sand, durch Wälder und Alleen, Moränenlandschaft und Urstromtal. Das Beste: Alle Anfangs- und Endpunkte der Etappen sind mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichbar. Doch man muss genau hinschauen, weil manchmal eine Buslinie ins immer leerer werdende Dorf eingestellt wurde. Aufpassen muss man auch bei der Markierung des Weges: Sie ist manchmal auf der 400 Kilometer langen Strecke um Berlin sehr gut, manchmal lässt sie den Wanderer aber auch allein. „In den alten Bundesländern, aber auch in Thüringen und Sachsen gibt es alle möglichen Landschaftspflegeverbände und Heimatverbände, die diese Wege betreuen. Diese Struktur fehlt in Brandenburg“, sagt der wandererfahrene Manfred Reschke. Dafür sind alle Touren im Buch auf Karten verzeichnet, ihr Verlauf genauestens beschrieben. Und obendrein erfreut der Autor mit beschaulicher Poesie aus reiner Wanderslust!

Manfred Reschke: „Die 66-Seen-Wanderung. Zu den Naturschönheiten rund um Berlin“. Trescher Verlag, Berlin 2009, 4. Auflage. 257 Seiten, 13,95 Euro

VON EDITH KRESTA

Falkenberg im Nordosten Berlins ist ungewöhnlich hügelig, das Bahnhofsgebäude dafür gewohnt verrammelt und verfallen. Glücklicherweise hält hier unbeirrt die private Ostdeutsche Eisenbahn GmbH (ODEG) von Eberswalde kommend. Der Ortskern ist einladend: getünchte, bunte Fassaden, Bauerngärten, ein Café, Bäcker, Zeitungsladen und Pensionen. Drum herum hügelige Moränenlandschaft mit ausgedehnten bunten Laubwäldern. Landlust. Hier findet man sie.

Mehr als 3.000 natürliche Gewässer hat die Mark Brandenburg, viele davon liegen in der unmittelbaren Umgebung Berlins. 66 Seen streift ein Wanderweg rund um die Hauptstadt. „Es sind eigentlich 71 Seen“, korrigierte Manfred Reschke, Buchautor und Initiator des Wanderwegs. „Doch die Zahl 66 klingt einfach besser.“ Route 66. Das setzt Bilder frei: Abenteuer, Weite, Freiheit. Wir machen uns auf den Weg. Unsere Etappe: von Falkenberg am Rande des Oderbruchs bis Leuenberg.

Am Ortsende von Falkenberg wandern wir am idyllischen Flusslauf entlang. Über den Ort Cöthen mit seinen geduckten Feldsteinhäusern. Auf einem sandigen Waldweg kommen wir zum Gamensee. Ab und zu kreuzen Rehe unseren Weg. Menschen sehen wir kaum. Eichhörnchen huschen die alten Buchen hoch. Wildschweine haben den unbefestigten Weg aufgewühlt. Die großen Pfützen in ihren Suhlspuren müssen wir überspringen. Doch die naturbelassenen Waldwege tun dem Rücken gut. Stille. Der große Parkplatz am Ende des Sees ist leer. Nur einige für den Sommerbetrieb am Strand bereitgestellte Entsorgungstonnen stehen hier. Und ein Wanderer in schwarzer Regenkleidung mit überdimensionierter Ausrüstung: Rucksack, Schlafsack, Zelt, Töpfe. Tim, wie er sich vorstellt, ist der Erste, dem wir seit Stunden begegnen. Er ist seit fünf Tagen auf dem 66-Seen-Weg unterwegs. 200 Kilometer hat er hinter sich. „Verdammt verlassen“, sprudelt es aus ihm heraus. Tim sucht Gesellschaft und Unterhaltung. Er erzählt von der Einsamkeit in Brandenburgs Dörfern, von seinen zahlreichen Verirrungen am nicht immer gut ausgeschilderten Weg mit dem blauen Punkt, von seiner Ausbildung zum Koch in einer Berliner Touristenfalle, von der großen Sehnsucht nach seiner Freundin. Und er sagt uns, warum er sich all das antut: Als persönliche Herausforderung und weil ihn Hape Kerkeling mit seinem Pilgerbuch beeindruckt hat. „Seine Erfahrungen fand ich schon toll“, sagt der 22-jährige Tim. Kerkeling hat das Wandern jugendfrei gemacht. Wir wandern gemeinsam weiter. Wälder, Wälder, Wälder. Abwechslungsreiche Laubwälder, selten langweilige Kieferschonungen. Pilze wachsen unbeschadet mitten auf dem Weg. Durch den lichten Laubwald blinken Seen wie der Teufel- oder der Rothsee und solche, die so klein sind, dass sie keine Namen haben. Es dämmert. Noch 2 Kilometer bis Leuenberg steht auf dem Schild mit dem blauen Punkt, der Auszeichnung unseres Weges. 2 Kilometer können lang sein, wenn man bereits 20 Kilometer hinter sich hat.

Ross und Wild mit Rotkohl verspricht das Schild vor der beleuchteten Jagdklause am Ortseingang von Leuenberg. Wir kehren sofort ein. Jede offene Gaststätte ein kultureller Höhepunkt! Tourismus hat hier wenn überhaupt eine gebrochene Tradition. Fremdenverkehr ist in den brandenburgischen Dörfern eine neue Entwicklung.

Frau von Bredow, die Wirtin, kommt eigentlich aus Berlin. Sie ist Mitglied des Vereins zur Förderung des 66-Seen-Wegs. Das Interieur mit Räuchermännchen am Fenster, ausgestopften Wildschweinköpfen an der Wand und einer letzten schwarz-rot-goldenen Klorolle unter den Häkelarbeiten des Dorfvereins, die am Eingang ausgebreitet liegen, verströmt den bodenständigen Charme der 60er-Jahre. Die Countrymusik aus dem Radio untermalt dies stilvoll. Frau von Bredow erzählt uns vom Leben auf dem Land. Unkonzentriert und sprunghaft. Vielleicht weil der einzelne Gast am Tresen ihre Aufmerksamkeit mitbeansprucht. Sie erzählt von Ekkehard und Friedo, ihren beiden fünfzehnjährigen Wildscheinen; von ihrem Partner, der Räuchermännchen und vor allem die Jagd mag; und von Wanderern, die Leuenberg zu später Stunde erreichen und eine Übernachtungsmöglichkeit suchen. „Ich erkenne sie sofort an den ratlosen Gesichtern“, sagt sie.

Das Problem der Unterkunft haben wir nicht. Wir haben in der Pension Lampert ein paar Häuser weiter auf der Dorfstraße reserviert. „Ohne Frühstück, das gibt es reichlich in der Dorfbäckerei“, sagt Helga Lampert, als sie uns ins Zimmer führt. Sie war aktiv an der Ausschilderung und Führung des Wanderweges beteiligt, denn sie sitzt für die CDU im Leuenberger Gemeinderat. „Der Weg ist eine gute Aktion“, sagt sie und erzählt uns ihre DDR-Geschichte: Der Vater ging in den Westen, das Familienhaus wurde daraufhin enteignet. Sie wurde bespitzelt und gemieden, ihren Stasioffizier kennt sie persönlich. Helga Lampert arbeitete lange Jahre – wie fast alle im Dorf – in der LPG. Aus gesundheitlichen Gründen wurde sie zur Hortpädagogin umgeschult. Heute schwärmt Helga Lampert von der Öffnung und der Freude, die Urlauber bringen. „Sogar ein Chinese steht im Gästebuch“, sagt sie und zeigt den gemalten Gruß des Besuchs aus Peking. „Mein Mann sagt immer: Hätte unser Haus Räder, wären wir nicht hier“, gibt sie uns am nächsten Morgen zum Abschied mit.

Jede offene Gaststätte ein kultureller Höhepunkt! Tourismus hat hier eine gebrochene Tradition

Auf das Bier ist Verlass

Auf dem morgendlichen Weg zum Frühstück in der Dorfbäckerei kommt es hoch, das Ostgefühl: eine seelische Verstimmung, gebraut aus einer Überdosis an Grau und Verhaltenheit. Leere Straßen. Ein Mann am Fenster, der schnell die Vorhänge zuzieht, wenn Fremde vorbeigehen. Gaststätten, in denen sich der Gast als Eindringling empfindet, als hätte er den privaten Wohnzimmerschrank betreten. Menüs, lieblos mit grober Hand gefertigt. Ein Witz, der sofort als Beleidigung aufgefasst wird. Ewiges Misstrauen nach 40 Jahren Überwachungsstaat? Neid aus Perspektivlosigkeit? Unfreundlichkeit, weil man Freundlichkeit nicht gelernt oder erfahren hat? Humorlosigkeit, weil man hier nichts zu lachen hat? Oder ist es einfach der Tatsache geschuldet, dass viele brandenburgische Dörfer aussterben, weil die jungen Menschen, die noch etwas wollen, wegziehen? Einzig auf das Bier – dunkel oder hell – ist hier Verlass.

Und auf die ungewöhnliche, herbschöne Wald- und Seenlandschaft, die es so nirgendwo sonst in Deutschland gibt. Die Landschaften um Berlin sind weder ruiniert noch vergiftet. Sie sind naturbelassen, leer und manchmal verloren. Ein natürlicher Raum der Stille – ganz nah der Metropole und doch so fern.

Edith Kresta, geboren in Süddeutschland, ist Reiseredakteurin der taz