: „Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie“
ARMUT Der Schweizer Publizist Jean Ziegler hat eine bittere Bilanz seiner Arbeit als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung vorgelegt
■ geboren 1934 in der Schweiz, ist Publizist und emeritierter Professor für Soziologie in Genf sowie derzeitiger Vizepräsident des „Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrates“.
■ Jean Ziegler: „Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt“. Bertelsmann Verlag, München 2012, 320 Seiten, 19,99 EuroFoto: Bertelsmann
sonntaz: Herr Ziegler, mit dem Titel Ihres Buches, „Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt“, nehmen Sie uns alle in Haftung. Muss das sein?
Jean Ziegler: Das muss sein. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 57.000 Menschen sterben täglich am Hunger und ein Siebtel der Menschheit ist permanent schwerstens unterernährt. Und das auf einem Planeten, der laut FAO 12 Milliarden Menschen ernähren könnte. Aber 85 Prozent der auf dem Weltmarkt gehandelten Grundnahrungsmittel werden von zehn Konzernen beherrscht, die jeden Tag durch Preisbildung entscheiden, wer stirbt und wer lebt. Dafür sind wir alle verantwortlich, weil wir diese mörderischen Mechanismen der kannibalischen Weltordnung problemlos brechen könnten. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie.
Warum dieses Buch?
Ich war von 2000 bis 2008 der erste UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Dieses Buch ist die Abrechnung. Jetzt kann ich endlich sagen, wer die Halunken sind, aber auch, wen ich selbst verraten habe. Als ich bei den Majabauern in Guatemala war, habe ich in ihren Augen plötzlich Hoffnung gesehen, Hoffnung auf Landreform, auf genügend Ernährung. Die hatten keine Ahnung, wer die UNO ist – aber ein Weißer mit diesen großen Autos und seinem ganzen Tross, der musste doch mächtig sein. Drei Monate später hat der amerikanische Botschafter vor der UN-Generalversammlung alle meine Empfehlungen sabotiert. Der wesentlichste mörderische Mechanismus aber ist derzeit die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel. Der Mais ist deshalb in den letzten fünf Monaten um 63 Prozent gestiegen. Die großen Hedgefonds sind alle von Immobilien auf Nahrungsmittel umgestiegen. Goldmann-Sachs offeriert schon wieder Derivate – aber jetzt auf Reis, Mais, Getreide, Soja, Zucker. Hinzu kommt, dass Hunderte von Millionen Tonnen von Nahrungsmitteln verbrannt werden, um Agrartreibstoffe herzustellen. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Ihr Hungerbuch kommt im falschen Moment. In der Armutsbekämpfung gibt es Fortschritte.
Wenn Sie sich die Bevölkerungs- und die Hungerkurve anschauen, dann gibt es zwar statistische Fortschritte. In absoluten Zahlen aber hat das Verhungern zugenommen. Also was soll das?! Gilt es inzwischen als Erfolg, dass mehr Menschen am Hunger sterben, weil gleichzeitig noch mehr Menschen geboren werden?
Ihre zentrale Forderung lautet: Nahrung muss ein öffentliches Gut werden. Was ändert das?
Ganz einfach: Grundnahrungsmittel werden der Börse entzogen. Ihr Besitz wird zu einem einklagbaren Menschenrecht gemacht.
Sie trauen hier aber weder der UNO noch der WTO oder gar dem IWF. Wer soll die Aufgabe einer Regulierung übernehmen?
Wir brauchen einen Aufstand des Gewissens, der unsere Regierungen zur Radikalreform zwingt. Im Süden gibt es die Bauerngewerkschaften, die in Honduras, Indonesien, auf den Philippinen, im Nordsenegal im Aufstand sind und die Ackerflächen besetzen. Davon spricht in Europa kein Mensch.
Sie sind Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates. Was ist Ihre Forderung an den Rat?
Es geht um die Forderung nach einer Konvention für die Rechte der Bauern. Die Hälfte der Menschheit lebt noch immer auf dem Land. Sie erlebt derzeit einen ungeheuren Landraub durch die Konzerne, Hedgefonds und Banken – oft in Komplizität mit den korrupten lokalen Regierungen. Allein im letzten Jahr sind laut Weltbank in Afrika 41 Millionen Hektar Land den Bauern entzogen und ausländischen Investoren übergeben worden.
Der deutsche Botschafter der Vereinten Nationen in Genf engagiert sich vor allem bei der Frage des Trinkwasserschutzes.
Das ist gut. Deutschland hat hier wundersamerweise eine sehr mutige Position und lässt sich dabei auch auf einen Streit mit Konzernen wie Nestlé ein, die die Wasserversorgung privatisieren wollen.
Was, Herr Ziegler, ändert sich, wenn Ihr Buch zum Bestseller wird?
Das Buch muss eine Waffe für die Bürgerinnen und Bürger sein. Wenn es sich gut verkauft, desto besser! FRITZ VON KLINGGRÄFF