: Die Polizistin, der Tod und die Fälschung
VERSCHWÖRUNGEN Als vor einem Jahr der NSU auffliegt, beginnt ein Wettlauf um Enthüllungen. Die sensationellste Story druckt der „Stern“. Doch das Magazin fällt auf ein falsches Geheimdienstpapier rein
■ „Legale illegale Papiere“: Kurz nach Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds berichtete die Bild, dass im Brandschutt der Wohnung des Neonazitrios in Zwickau „legale illegale Papiere“ gefunden worden seien, und zitierte den CSU-Politiker Hans-Peter Uhl mit den Worten: Solche Ausweise würden in der Regel nur Undercover-Geheimdienstleute kriegen. Bild fragte: „Haben Verfassungsschützer den rechtsradikalen Mördern mit Ausweispapieren geholfen?“ Auch die taz berichtete über die „legalen illegalen Papiere“. Doch die gab es nicht. Die Ausweise des NSU kamen von Helfern oder waren geschickt gefälscht.
■ „Der Mann mit der Ceska“: Am 6. April 2006 war der hessische Verfassungsschützer Andreas T. an einem Tatort des NSU – einem Internetcafé in Kassel, in dem Halit Yozgat erschossen wurde. Warum T. sich nach der Tat nicht meldete, ist bis heute unklar. Für ausgeschlossen halten die Ermittler aber, was die Zeit im Juli 2012 insinuierte. „Hat ein hessischer Verfassungsschützer einen der NSU-Morde begangen?“, fragte das Wochenblatt. Dass die Bundesanwaltschaft den Fall 2011 und 2012 noch mal überprüft hat und keinen Anfangsverdacht dafür fand, neu gegen ihn zu ermitteln, wird in dem Text nicht erwähnt.
VON FELIX DACHSEL UND WOLF SCHMIDT (TEXT) UND MICHAEL SZYSZKA (ILLUSTRATION)
Der Mann, der sagt, er kenne die Wahrheit über islamistische Terroristen, den Nationalsozialistischen Untergrund und den Mord an einer Polizistin in Heilbronn, sitzt auf einem Korbstuhl in der Sonne. Seine dunkle Brille hat er auf das Holzgeländer der Veranda gelegt, er steckt sich eine Camel an. Als er den Mund öffnet, sieht man, dass ihm Zähne fehlen.
Lange hat er gezögert vor diesem Treffen, dann nannte er ein Datum. Der Ort kam am Tag vor dem Termin: ein Restaurant am Autobahnzubringer einer mittelgroßen Stadt.
Er zieht einen Laptop aus dem Rucksack, klappt ihn auf. Was in der Welt der Geheimdienste ablaufe, sagt er, sei ein Spiel. „Ein gefährliches.“ Er glaubt, es durchschaut zu haben.
Er soll hier Maier heißen, ein Mann Mitte fünfzig, mit Fünftagebart und Loch in der Jeans. Er hat einige Jahre für einen US-amerikanischen Geheimdienst gearbeitet. Jetzt ist er arbeitslos.
Die Behörden glauben, dass Maier etwas mit einem Geheimdienstpapier zu tun hat, das vor knapp einem Jahr vom Stern abgedruckt wurde. Eine scheinbar spektakuläre Entdeckung, die eine Verbindung herstellt zwischen Neonazis, islamistischen Bombenbauern, deutschen und US-amerikanischen Geheimdiensten. Doch das Papier ist eine Fälschung, das gilt inzwischen als sicher. Ermittler gehen davon aus, dass Maier der Mann war, der dem Stern die peinlichste Ente seit der Entdeckung der Hitler-Tagebücher beschert hat.
Maier bestreitet das. Er sagt: Mein Wissen gefährdet mein Leben.
Er hat an den Innenminister geschrieben. Er rief beim Bundeskriminalamt an. Er traf Journalisten. Doch fast alle, mit denen Maier Kontakt aufnahm, hielten ihn für unglaubwürdig.
Maier sagt, dass Flugzeuge ein Gebäude wie das World Trade Center gar nicht zum Einsturz bringen könnten. Dass Osama bin Laden schon im Jahr 2001 getötet worden sei. Dass die arabische Revolution von der Zentrale des US-Militärs in Stuttgart aus gesteuert werde.
Und Maier sagt, er kenne den Zusammenhang zwischen rechtem Terror und Islamisten in Deutschland. Es ist eine irre Story – die ziemlich genau so am 1. Dezember 2011 im Stern stand.
Knapp einen Monat zuvor hatte die Polizei in einem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach die Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gefunden. Das Land erfährt gerade, wie die Neonazis jahrelang unbehelligt durchs Land ziehen, rauben und morden konnten. Es ist eine Zeit, in der manche Wahrheit so ungeheuerlich klingt wie eine Verschwörungstheorie.
Und eine Zeit, in der Journalisten versuchen, endlich aufzudecken, was so lange unbemerkt blieb. Sie wollen Hintermänner finden, Puzzleteile zusammenfügen, den Skandal enthüllen. Das macht Maiers Geschichte und die des Papieres, auf das der Stern hereinfiel, zu einem Lehrstück darüber, wie sich Journalisten auf der Jagd nach dem großen Coup verirren können.
Maier stellt den Rucksack auf den Boden, in dem er seine Wahrheiten mitgebracht hat. Der Stoff ist mit Filzstift bekritzelt. Er fährt über das Touchpad seines Laptops, klickt sich durch die Ordner auf der Festplatte.
Damals, vor fast genau einem Jahr, wenige Tage nachdem der Nationalsozialistische Untergrund aufgeflogen war, entschied sich Maier, eine E-Mail an Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich zu schicken. Er habe brisante „Erkenntnisse“ und bitte um „absolute Diskretion“.
Es geht um eines der Opfer des NSU, eine 22-jährige Beamtin der Böblinger Bereitschaftspolizei, die am 25. April 2007 auf einem Parkplatz in Heilbronn starb: Michèle Kiesewetter.
An jenem Mittwoch, nachmittags um kurz vor zwei, steuerten Kiesewetter und ihr Kollege Martin A. ihren Streifenwagen mit dem Kennzeichen GP-3464 auf die Theresienwiese in der Nähe des Hauptbahnhofs. Im Schatten eines Trafohäuschens machen sie eine Pause. Sie essen, rauchen. Dabei schleichen sich zwei Gestalten an – und schießen beiden Polizisten von hinten in den Kopf. Martin A. überlebt nur knapp, bei Kiesewetter stellte eine Notärztin um 14.22 Uhr den Tod fest.
Viel spricht heute dafür, dass Uwe Mundlos den tödlichen Schuss auf Kiesewetter abgefeuert hat. Doch das Motiv des Mordes ist auch ein Jahr nach Auffliegen des NSU noch immer unklar. Der Fall bleibt einer der mysteriösesten der deutschen Kriminalgeschichte.
Neonazis töten eine Polizistin: Für Maier, den ehemaligen US-Geheimdienstmitarbeiter, ist das nur die halbe Wahrheit. Also schreibt er die E-Mail an den Innenminister. Es ist der 12. November, der Tag, an dem die Medien zum ersten Mal über ein Bekennervideo des NSU berichten.
Er weise „nachdrücklich“ auf die Verstrickung islamistischer Kreise sowie deutscher und US-amerikanischer Geheimdienste im Heilbronner Mordfall hin, schreibt Maier. Er verbleibt „hochachtungsvoll“.
Es ist nicht die erste E-Mail, die Maier an den Innenminister schreibt. Nur wenige Monate zuvor hatte er sich bei Friedrich beworben – erfolglos. Er wollte als Referent für Nachrichtendienste eingestellt werden, das zeigen interne Dokumente aus dem Ministerium.
Drei Tage später, am 15. November 2011, ruft Maier beim Hinweistelefon des Bundeskriminalamts an, so steht es in Ermittlungsakten. Er will von amerikanischen Geheimdienstkollegen erfahren haben, dass am Tag der Ermordung ein gesuchter Islamist in Heilbronn gewesen und durch „amerikanische Stellen“ observiert worden sei: Mevlüt K., ein bis heute gesuchter Deutschtürke aus Ludwigshafen. K. war Kontaktmann der islamistischen „Sauerland-Zelle“, er soll den Terroristen damals Zünder besorgt haben.
Schon die Uhrzeitangabe auf dem Papier passt nicht
Das BKA nimmt Maiers Telefonnummer auf und legt die Spurennummer 210000016 an.
Maiers Theorie ist in den Akten. Aber dort bleibt sie nicht.
Zwei Wochen später, am 1. Dezember 2011, erscheint im Stern eine sechsseitige Geschichte, die Überschrift läuft über zwei Seiten, dahinter steht ein Fragezeichen: „Mord unter den Augen des Gesetzes?“ Darunter steht: „Ein amerikanischer GEHEIMDIENSTBERICHT legt nahe, dass deutsche Verfassungsschützer Zeugen des Heilbronner Polizistenmordes waren. Warum schwiegen sie dann?“ Es geht um jenen Tag in Heilbronn, den Mord an Michèle Kiesewetter. Es geht um Puzzleteile, die sich zusammenfügen, zumindest in den Köpfen der Autoren.
Der Text stützt sich auf ein „Observationsprotokoll des amerikanischen Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency“, kurz DIA. Neben dem Artikel druckt der Stern einen Ausriss des Papiers.
Das Schriftstück, so schreiben die Autoren, sei als besonders geheim klassifiziert, „secret no foreign nationals“, nicht freigegeben für ausländische Dienste. Es sei „durchaus möglich“, dass es bisher nie in deutschen Akten aufgetaucht sei. „Seine Echtheit vorausgesetzt“ soll das Papier dokumentieren, wie deutsche und US-amerikanische Nachrichtendienstler einen Islamisten observierten: Mevlüt K., den Kontaktmann der „Sauerland-Zelle“.
An der Aktion soll ein Mitarbeiter einer US-amerikanischen Spezialeinheit teilgenommen haben, sie wird „SIT Stuttgart“ genannt, außerdem zwei Beamte des Verfassungsschutzes – ob aus Baden-Württemberg oder aus Bayern, das lässt das Dokument offen. Schon das hätte die Journalisten stutzig machen können.
Gemeinsam soll das Agenten-Team Mevlüt K. und einen weiteren Verdächtigen beschattet haben. Der soll an diesem Tag in einer Filiale der Santander Bank in Heilbronn 2,3 Millionen Euro vermutlich eingezahlt haben. Danach habe sich der Observationstrupp zur Theresienwiese bewegt, dem Tatort des Kiesewetter-Mordes. Der Beschattete erreichte ihn laut Observationsprotokoll um 13.50 Uhr.
Was dort passierte, oder vielmehr: was dort laut dem Dokument passiert sein soll, ist atemberaubend. Am Tatort kreuzen sich, im Moment des Mordes an Michèle Kiesewetter, die Wege von deutschen Verfassungsschützern, amerikanischen Agenten, einem gesuchten Islamisten, Polizisten und bewaffneten Neonazis. Rechter und islamistischer Terror begegnen sich, die „Zwickauer Zelle“ trifft auf die „Sauerland-Zelle“. Eine Polizistin wird ermordet, und der Verfassungsschutz schaut zu und schweigt – vielleicht um die Ermittlungen gegen Islamisten nicht zu gefährden?
„SHOOTING INCIDENT […] WITH RIGHT WING OPERATIVES AND REGULAR POLICE PATROL ON THE SCENE“, zitiert der Stern aus dem vermeintlichen Observationsprotokoll. Es soll also eine Schießerei gegeben haben, in die Rechtsextreme und eine Polizeistreife verwickelt waren. Woher die Verfasser des Berichtes wussten, dass die Täter Rechtsextreme sind, kann auch der Stern nur mutmaßen.
Die Autoren folgern: „Wenn stimmt, was sich nach dem augenscheinlich echten ‚Contact Report‘ der DIA aufdrängt, ist dieser Vorgang schwerwiegender als alle bisher bekannten Pannen und Nachlässigkeiten.“ Augenscheinlich echt.
Doch was, wenn der Augenschein trügt?
Bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe hat man von Anfang an Zweifel, dass das Observationsprotokoll echt ist. Dennoch gehen die Ermittler der Sache nach. Immer mehr Widersprüche tun sich auf. Der baden-württembergische Verfassungsschutz beteuert, kein Mitarbeiter sei an jenem Tag Teil einer US-Observation oder gar Zeuge des Mordes gewesen. Das bayerische Innenministerium hatte schon gegenüber dem Stern dementiert, dass seine Verfassungsschützer in Heilbronn vor Ort waren.
Kurz danach schreiben US-Vertreter im Namen der Geheimdienste an das Bundesinnenministerium, dass man von einer Fälschung ausgehe. Schon die Uhrzeitangabe auf dem Dokument folge nicht den Konventionen. Statt „13:50 hrs“ hätte es „1350 hrs“ heißen müssen, ohne Doppelpunkt. Und ein echter Observationsbericht wäre nicht mit „contact report“ überschrieben gewesen, sondern mit „surveillance report“. Später teilen die Amerikaner den Deutschen mit, auch eine Einheit mit dem Namen „SIT Stuttgart“ habe nie existiert.
Die Santander Bank, in deren Heilbronner Filiale laut Observationsprotokoll 2,3 Millionen Euro eingezahlt worden sein sollen, geht noch mal die Einträge des ganzen Jahres durch – doch die höchste Einzahlung habe bei knapp über 100.000 Euro gelegen. „Die aus dem Papier zitierte Aussage entspricht also nicht den Tatsachen“, teilt eine Sprecherin der Bank mit.
Das BKA bezweifelt gar, dass der angeblich observierte Islamist Mevlüt K. 2007 überhaupt in Deutschland gewesen sei. Nach den Ermittlungen zur Sauerlandgruppe gebe es dafür „keine Anhaltspunkte“.
Die Puzzleteile passen hinten und vorne nicht zusammen.
Im März dieses Jahres schreibt die US-Botschaft den Ermittlern: Zwar müsse der Verfasser des Protokolls rudimentäre Kenntnisse haben, wie solche Geheimdienstberichte aufgebaut seien; es gebe aber zahlreiche Widersprüche. Das Format, die Terminologie, der Inhalt. Sie schlussfolgern: Das Dokument ist nicht authentisch.
Maier, der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter, muss in etwa gewusst haben, wie solche Berichte aussehen, seine Erzählungen passen zum Inhalt des Papiers. Aber er bestreitet, der Urheber des Dokumentes zu sein.
Maier lehnt sich im Stuhl zurück, klopft die Asche seiner Zigarette ab. Er fixiert sein Gegenüber. „Ich habe das Teil nicht gesehen und niemandem untergejubelt“, sagt er. „Ich weiß noch nicht mal, ob das Stern-Protokoll wirklich existiert.“
Die Ermittler sind dagegen überzeugt davon, dass es Maier war, der die Geschichte lancierte. In Akten der Bundesanwaltschaft heißt es: „Aufgrund der augenfälligen Übereinstimmungen zwischen dem Hinweis von Herrn Maier und dem Tenor des Stern-Artikels wird von einem Zusammenhang zwischen Hinweis und Artikel ausgegangen.“
Wer hat recht?
Eine Sprecherin des Magazins schreibt auf sonntaz-Nachfrage in einer schriftlichen Erklärung: „Zur Herkunft seiner Informationen äußert sich der Stern grundsätzlich nicht.“ Nur so viel: Geld sei nicht geflossen.
Tage, in denen viele fast alles für möglich hielten
Im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags sagte Jörg Ziercke, Chef des Bundeskriminalamts, es sei für ihn „erwiesen, dass das, was da abgedruckt war im Stern, ein Fake war“.
Auch für die Bundesanwaltschaft ist die Sache geklärt. Man habe Hinweise auf eine Anwesenheit von US-Sicherheitskräften beim Heilbronner Mord „eingehend“ geprüft. Keiner habe „sich als tragfähig erwiesen“.
Beim Stern erinnert man sich, fast ein Jahr danach, ungern an die Sechs-Seiten-Story. Mehreren Mitarbeitern ist die Sache spürbar unangenehm, sie wollen nicht zitiert werden.
Auf Anfrage gibt das Magazin eine Antwort, die nicht so recht zu der damaligen Einschätzung passen will, das Dokument sei „augenscheinlich echt“.
Der Stern habe „die Frage der Echtheit des Protokolls immer offen gelassen“, schreibt eine Sprecherin. „Wir haben uns entschieden, es zu veröffentlichen, weil in dem Papier Sachverhalte angesprochen werden, die sich mit unseren Rechercheergebnissen rund um den Polizistenmord von Heilbronn decken.“ Ob die Autoren vor der Veröffentlichung je US-amerikanische Stellen mit dem Protokoll konfrontierten, sagt sie nicht.
Nicht die Echtheit des Dokuments war also entscheidend, sondern dass die Puzzleteile genau in den Recherchestand der Autoren passten.
Die Theorie, es gäbe eine Verbindung zu Islamisten im Heilbronner Mord, ist nicht neu. Im Herbst 2010 erschien ein Sammelband mit einem Kapitel des freien Stern-Mitarbeiters Rainer Nübel. Es heißt „Die Polizistin, der Tod und die Lüge“ und handelt von Ermittlungsfehlern im Fall Kiesewetter.
Nübel behauptet dort, es habe eine Geldeinzahlung „in zeitlicher Nähe zum Attentat“ im Raum Heilbronn gegeben. Arabische Personen, „offenbar Islamisten“, hätten einen Millionenbetrag zu einer Bank gebracht. Nübel wirft der Polizei vor, diese Spur vernachlässigt zu haben.
Eine Millioneneinzahlung verdächtiger Islamisten taucht auch in dem gefälschten Observationsprotokoll auf. Einer der sieben Autoren des Stern-Textes ist Rainer Nübel, der auch für die taz schreibt. Ist er derjenige, der das Papier besorgt hat?
„Von der Existenz und dem Inhalt des Papiers habe ich als freier Stern-Mitarbeiter im November 2011 erfahren, als es der Stern-Redaktion vorlag“, antwortet Nübel auf Anfrage.
Wie kam das Protokoll ins Heft? Wie konnten die Kontrollinstanzen versagen?
Die Antwort auf diese Fragen ist wohl auch in jenen Tagen im Herbst 2011 zu suchen, als die „Zwickauer Zelle“ aufflog – und in der Stimmung, die in diesen Tagen herrschte.
Am 11. November wurde öffentlich bekannt, dass die rechtsextreme Terrorzelle NSU hinter den Morden an neun Migranten und der Polizistin Kiesewetter steckt. Stück für Stück wurde das Versagen der Sicherheitsbehörden sichtbar, die trotz V-Leuten im Umfeld des Neonazitrios nichts mitbekommen haben wollen.
In diesen Tagen hielten viele fast alles für denkbar – offenbar auch am Hamburger Baumwall, in der Redaktion des Stern.
Würde aber stimmen, was das Magazin am 1. Dezember 2011 druckte, hätte es nicht weniger als eine Verschwörung amerikanischer und deutscher Behörden gegeben: Viereinhalb Jahre hätten sie gewusst, von wem Michèle Kiesewetter erschossen wurde. Sie hätten gemeinsam beschlossen, den Polizistenmord zu verheimlichen, und mordende Neonazis davonkommen lassen.
Wer eine solche Enthüllung druckt, muss sich sicher sein, dass sie stimmt. Und der Stern sollte sich besonders sicher sein.
Am 25. April 1983 gibt das Hamburger Magazin bekannt, im Besitz der Tagebücher von Adolf Hitler zu sein. Der Coup hält nur wenige Tage. Ein Papiertest entlarvt den Schwindel. Die Redaktion ist blamiert. Seitdem haftet sie dem Magazin an – die Geschichte eines Dokuments, an dessen Echtheit Journalisten auf der Suche nach der Sensation glauben wollten.
Ein Mann ruft an, der Geheimdienst foltere ihn
Das gefälschte Geheimdienstprotokoll über den Heilbronner Polizistenmord ist weniger aufsehenerregend, als es die Hitler-Tagebücher waren. Aber hinter beiden Fällen steht dieselbe Herausforderung: spektakuläre Informationen zu prüfen.
Die Monate nach dem Auffliegen der „Zwickauer Zelle“ waren eine Zeit der großen Enthüllungen, aber auch der kruden Theorien. Unzählige Menschen meldeten sich in Redaktionen und bei den Ermittlern.
Eine Frau aus Süddeutschland wandte sich an die Polizei, weil sie in ihrem Ort eines der Wohnmobile der „Zwickauer Zelle“ gesehen haben will. Bei der Vernehmung erzählt sie, dort auch die Tochter von Himmler, eine Ex-RAF-Terroristin, ein Al-Qaida-Mitglied und den Chef des Ku-Klux-Klan gesichtet zu haben.
Ein Exrocker erzählte den Ermittlern, er habe 2002 eine Party veranstaltet, finanziert von ostdeutschen Sicherheitsbehörden. Auch Böhnhardt, Mundlos und ihre Komplizin Beate Zschäpe seien erschienen. Letztere habe zum bewaffneten Kampf gegen Ausländer aufgerufen – und der Verfassungsschutz die Hetzrede dokumentiert. Die Bundesanwaltschaft hält den Mann für jemanden, der „bewusst wahrheitswidrige Angaben“ macht.
Bei der taz meldete sich ein Mann, der behauptete, er habe seinen Nachbarn mit Beate Zschäpe im Pool gesehen. „Er stellte mir Frau Zschäpe als seine braune Braut vor.“ Im Nachbarhaus gebe es einen ausgestopften Löwen – ein Waffenversteck?
Ein Mann aus Sachsen rief in der taz an und sagte, die NSU-Affäre belege endgültig die Methoden des Verfassungsschutzes. Er selber werde vom Geheimdienst mit Strahlen gefoltert.
Gehört auch Maier, der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter, in diese Reihe?
Nicht ganz. In seiner Dienstzeit hat er Informationen gesammelt. Er kennt Details. Manches davon nutzt er nun, um Legenden zu verbreiten. Ein früherer US-Geheimdienstkollege, der an Ermittlungen gegen Maier beteiligt war, nennt ihn einen Lügner.
Maier sieht auch das ganz anders. Natürlich.
„Hinterfragen Sie alles, dann liegen Sie nah an der Wahrheit“, sagt er. Maier drückt die Zigarette aus, fährt den Laptop herunter. Auf der Tastatur fehlen zwei Tasten.
Er plant jetzt ein Buch. Irgendwo im Ausland will er die letzten Seiten schreiben, sagt er. Er werde minutiös auflisten, was da gelaufen ist. Die Nazis, die Islamisten, die Geheimdienste.
Er macht sich gerade Gedanken über einen Titel. Eine Idee hat er schon. Irgendetwas mit „Märchenstunde“.
■ Felix Dachsel, 25, ist sonntaz-Redakteur
■ Wolf Schmidt, 33, ist taz-Redakteur für Innere Sicherheit
■ Michael Szyska, 28, ist freier Illustrator in Münster