: Auserwählte in widrigen Umständen
Eine Slacker-Idylle im Westjordanland, in der die Märtyrer-Maschine ihrer Arbeit nachgeht: In seinem Film „Paradise Now“ schildert Hany Abu-Assad, wie aus zwei sympathischen palästinensischen Rumhängern Selbstmordattentäter werden. Die Einfühlung gelingt, doch die Opfer werden ausgeblendet
VON BARBARA SCHWEIZERHOF
Es gibt ein unausgesprochenes Ranking von menschlichen Untaten, das daran abzulesen ist, wie streng eine Gesellschaft die Auseinandersetzung mit den Tätern oder gar eine Einfühlung in sie zu unterbinden versucht. Selbstmordattentäter rangieren da sehr weit oben. Ein Film, der die Attentäter als Hauptfiguren – um nicht „Helden“ zu sagen – hat, muss deshalb zwangsläufig mit Vorwürfen rechnen. Hany Abu-Assads „Paradise Now“ stellt den Versuch dar, einem Publikum den Zugang zu den Motivationen palästinensischer Selbstmordattentäter zu ermöglichen, ohne sie im Vorhinein abzuurteilen. Er macht sich dabei das Privileg der filmischen Darstellung zunutze: Im entscheidenden Moment nämlich blendet er aus. Ganz am Ende sitzt einer der beiden Hauptfiguren im Bus nach Tel Aviv, den Bombengürtel um den Leib geschnallt, und die Kamera bewegt sich stetig auf ihn zu, bis sie nur noch sein Augenpaar im Blick hat. Dann wird es weiß. Den Zuschauer entlässt der Film damit in voller Zwiespältigkeit: Einerseits ist man dankbar dafür, den Anblick des Gemetzels erspart zu bekommen, andererseits aber auch empört darüber, dass die Opfer hier so effektiv ausgeblendet werden.
Zweifel darüber, was als Nächstes passiert, kann man eigentlich nicht haben. Denn um die geht es in den 90 Minuten vor dieser Szene. Ganz am Anfang sind da Khaled (Ali Suliman) und Said (Kais Nashef), zwei sympathische Rumhänger irgendwo im Westjordanland. Freunde seit Kindertagen, arbeiten sie für schlechtes Geld in einer Autowerkstatt und scheinen zunächst vor allem die Probleme zu haben, die ihr Lebensstil so mit sich bringt: pünktliches Erscheinen, mangelhaft gepflegtes Äußeres, zu wenig Schlaf. Dann kommt die schöne Sahu (Lubna Azabal), um ihr Auto abzuholen, und es könnte eigentlich ein ganz anderer Film beginnen: eine zarte Liebesgeschichte zwischen diesen äußerlich jungen, irgendwie aber vorzeitig gealterten Menschen, die sich stoisch in widrigen Umständen einrichten.
Im Lauf des Films erfährt man, dass Sahu die Tochter eines geachteten Widerständlers ist, der von Israelis ermordet wurde. Der Respekt vor diesem „Märtyrer“ ermöglicht ihr ein paar Freiräume, die allein stehende Palästinenserinnen sonst kaum besitzen dürften. Saids Vater aber wurde von den eigenen Leuten wegen Kollaborierens mit den Israelis hingerichtet. Während Sahu nun den friedlichen Verhandlungen das Wort redet, steigert sich Said im Lauf des Films in die Tat hinein – und kein süßes Wort kann ihn am Ende davon abbringen. Denn die Slacker-Idylle von Khaled und Said wird bald schon von Jamal (Amer Hlehel) gestört, der ihnen ankündigt, sie seien auserwählt.
Was folgt, sind die spannendsten und zugleich unheimlichsten Minuten des Films. Said und Khaled gehen nach Hause zu ihren Familien, um Abschied zu nehmen. Jeder wird von einem Organisationsmitglied begleitet – und für den Zuschauer ist eigentlich nicht unterscheidbar, ob diese „Betreuung“ mehr eine Art Arrest oder eine psychologische Fürsorge darstellt. Wie überhaupt das Räderwerk der „Organisation“ etwas Bestürzendes hat. Man sieht, wie Khaled und Said gewaschen, rasiert und frisiert, wie aus den Slackern zwei sich auf einmal erstaunlich ähnliche Männer in weißen Hemden und Anzügen werden; der Bombengürtel wurde ihnen unmittelbar darunter auf die Haut geklebt. Einen ersten comic relief gibt es beim Dreh der Videos, die später den Nachwuchs inspirieren sollen. Gerade als Said sich in seine Rede so richtig hineingesteigert hatte, muss er noch mal von vorne anfangen – die Kamera war nicht angeschaltet. Im erbarmungslosen und stellenweise eben unfreiwillig komischen Ablauf dieser Vorbereitungen zeigt der Film etwas auf, was verschiedene Studien belegen: dass die Mehrheit der Selbstmordattentäter keine Einzeltäter sind, die aus Verzweiflung handeln, sondern gut konditionierte Handlanger von Organisationen, die sich Individuen zunutze machen.
Dieses beklemmende Ineinandergreifen von übergeordneter, aber unsichtbarer Struktur und lokalem Handeln durch vorgebliche „Freunde der Familie“ führt „Paradise Now“ präzise vor Augen. Dann aber kommt der „Action-Teil“. Der erste Grenzübertritt auf israelisches Territorium geht schief; die beiden Freunde verlieren sich aus den Augen. Während Khaled zurück zum „Kommando“ findet und vom Bombengürtel befreit wird, irrt Said beladen mit Sprengstoff und seinem Gewissen den Rest des Tages und der Nacht durch die Gegend. Unterdessen revidiert der Film das in den Szenen vorher Gezeigte – es wird doch noch die Geschichte eines Individuums, eines „verlorenen Sohns“, der aus Verzweiflung über den verräterischen Vater sich zur „Wiedergutmachung“ berufen fühlt. Das Räderwerk, das eben noch so gezielt schaltete, wird gleichsam entschuldigt. Die Entscheidung, es am nächsten Tag noch einmal zu probieren, fällt den beiden Jungs zu.
Die persönliche Ebene aber ist die, die man als Zuschauer am besten nachvollziehen kann. Daher der große Zwiespalt am Ende des Films. Man fühlt sich fast ein wenig zu gut behandelt. Im Bus mit Said sitzen hauptsächlich Soldaten, einem kleinen Mädchen war er einige Szenen davor noch sorgfältig ausgewichen, schließlich die Weißblende vor der Explosion: Vielleicht macht der Film es uns auch zu einfach mit der Einfühlung?
„Paradise Now“. Regie: Hany Abu-Assad. Mit Kais Nashef, Ali Suliman u. a., Frankreich/ Deutschland/ Niederlande 2004, 91 Min.