: Wörter für alles
Ein herzzerreißendes Werk von glücklicherweise gar nicht so umwerfender Genialität: Nicole Krauss’ Roman „Die Geschichte der Liebe“
Achtung, Floskelalarm! Achtung, überschwängliche Begeisterung! Gar nicht so leicht, in einer Besprechung dieses Romans der amerikanischen Schriftstellerin Nicole Krauss Sätze zu vermeiden, die am laufenden Band in Elke-Heidenreich-Sendungen fallen. Denn Krauss’ „Geschichte der Liebe“ ist ein umwerfend schöner und für ihre 31 Jahre umwerfend reifer Roman; ein umwerfend anrührender Roman über große Lieben und kleine Leben und die Wechselfälle der großen Lieben und kleinen Leben vor dem Hintergrund des Holocaust und (verschwundener) jüdischer Lebenswelten; ein Buch, das „zärtlich“ und „originell“ ist, wie J. M. Coetzee befand, ein „gewaltiges Buch“ laut Colum McCann, ein finten- und erfindungsreicher Roman über das Schreiben und darüber, wie Bücher die großen Lieben und kleinen Leben beeinflussen können, wie wir meinen.
Und, ganz klar, nach so viel Überschwang, „Die Geschichte der Liebe“ ist bis zur letzten Zeile mitreißend erzählt. Nicht mal der mehrfache Wechsel der Erzählperspektive sorgt für Stockungen, im Gegenteil, allesamt hat man sie fix ins Herz geschlossen: den 80 Jahre alten, in New York lebenden Leo Gursky aus dem polnischen Slomin, der sich über drei Jahre in den Wäldern vor den Nazis versteckte, es dann nach New York geschafft hat und hier seine Einsamkeit kultiviert; die 14-jährige Alma Singer, die ihren an Krebs gestorbenen Vater verloren hat, sich nun um ihren Bruder Bird sorgt und für die Mutter einen neuen Mann zu finden versucht; einen Freund von Gursky, den Journalisten Zvi Litvinoff, der vor den Nazis nach Valparaiso in Chile entkommt.
Was sie allesamt, ohne es zu wissen, verbindet: ein Manuskript von Gursky, „Die Geschichte der Liebe“, die dieser in Slomin seiner großen Liebe Alma gewidmet hat. Dieses Manuskript, eigentliches Zentrum von Krauss’ Roman, geht auf Reisen, wird kopiert, leicht lateinamerikanisiert, ins Spanische übersetzt, erscheint als Buch, wird rückübersetzt. Labyrinthisch, wie „Die Geschichte der Liebe“ ist, gibt es in ihren Gängen manches Rätsel zu lösen, aber auch vielerlei andere Geschichten, die Krauss flink, smart und spielerisch verdrahtet: traurige und lustige, solche über das Verschwinden oder über das Erzeugen von Aufmerksamkeit oder solche, die sich um die Literatur von Isaac Babel bis Bruno Schulz drehen.
Fast nebensächlich dabei ist, dass Krauss ihren Roman mit ein paar leeren, nur einen Satz enthaltenden Seiten bestückt oder die Alma-Kapitel in nummerierte kurze Absätze einteilt und sie sich mit diesen experimentellen Spielchen nolens volens zu ihrem Ehemann Jonathan Safran Foer und seinem zeitgleich geschriebenen und veröffentlichten Roman „Extrem laut und unglaublich nah“ in Beziehung setzt. Wer dann noch beide Romane parallel liest, stellt fest, wie diese sich unweigerlich umschlingen, wie Motive sich wiederholen – etwa die des Verschwindens und des Verschließens, oder das der Suche nach den verlorenen Vätern. Der wird aber genauso merken, dass Krauss die Erzählzügel straffer hält als ihr Mann, dass sie ihre Geschichten und Motive kompakter zu bündeln weiß, dass sie nicht in einer Tour ihre Brillanz herausstreichen muss.
Dass so ein Roman auch mal die Grenzen des Kitschs streift, versteht sich bei herzzerreißenden Werken von selbst. Und dass man Krauss vorwerfen könnte, oft zu leichthin den Holocaust als Blaupause für ihre Liebesgeschichten zu verwenden, ja dass die jüdischen Lebenswelten doch eher versunkene bleiben – das gehört wohl mit zu den Abstrichen, die man bei Büchern von so mitreißendem Charakter machen muss. GERRIT BARTELS
Nicole Krauss: „Die Geschichte der Liebe“. Aus dem Englischen von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek 2005, 350 Seiten, 19,90 Euro