: Herz gegen Arsch
GRABENKÄMPFE In Stuttgart soll der Bahnhof unter die Erde – mit allen Weichen und Gleisen. Ein bisschen wackelt Deutschlands größtes Verkehrsprojekt noch. Obwohl es seine Verfechter als neues Herz Europas sehen. Die Gegner sehen ihre Stadt schon ganz woanders
1 Stuttgart: CDU, SPD und FDP wollen Hauptbahnhof und Gleise unter die Erde verlegen. Idee: Oben können Häuser gebaut werden, unten wird der Verkehr beschleunigt. Haken: Großbaustelle, Riesenausgaben, Nutzen strittig. Kosten offiziell: 3 Mrd. Euro. Kritiker sagen: das Doppelte.
2 Berlin: Das Stadtschloss soll als sogenanntes Humboldtforum für Museen und eine Bibliothek wiederaufgebaut werden. Die Kosten legte der Bundestag 2007 auf maximal 552 Mio. Euro fest. Kritiker fürchten, dass der Bau mindestens das Doppelte kostet.
3 Leipzig: Der City-Tunnel soll den S-Bahn-Verkehr beschleunigen. Eigens wurde ein Megabohrer angefertigt, der sich durch die Erde frisst. Pfusch und Grundwasserprobleme verzögern die Arbeiten. Kosten: Ursprünglich 572 Mio. Euro, nun 893 Mio.
4 München: Schon Stoiber wollte gern in einer Liga mit Paris Charles-de-Gaulle und Heathrow spielen – nun gönnt die CSU dem Flughafen eine dritte Startbahn. Obwohl die Zahl der Passagiere sinkt. Trotz Lärm, trotz Klimawandel. Kosten: 1 Milliarde.
5 Hamburg: Auf den Mauern eines alten Hafenspeichers soll sich ein Konzerthaus aus Spezialglas erheben: Die Elbphilharmonie. Doch der Koloss ist aufwendiger als gedacht. Die Hansestadt soll nun 323 statt 114 Mio. Euro geben, ständig wird nachverhandelt.
VON INGO ARZT
Gangolf Stocker stöbert im Tresorraum. Flugblätter, Fahnen, Broschüren. Der gepanzerte Raum ist geräumig, hier hortet Stocker, was er braucht als einer der Anführer des Widerstandes. Früher haben sie im Erdgeschoss des Stuttgarter Rathauses die Pläne verwahrt, wie die Bevölkerung im Falle eines Atomkrieges zu evakuieren sei. Gangolf Stocker, damals Kommunist, hat gegen das Wettrüsten und die Stationierung der Atomraketen protestiert. Heute kämpft er gegen einen Bahnhof.
Nur ein Bahnhof? „Ein Milliardengrab“, sagt Stocker. „Ein Wahnsinn.“ Es hört sich so an, als ginge es dieses Mal kaum um weniger als die Verhinderung des dritten Weltkrieges. Und es ist wirklich ein gewaltiges Vorhaben. Der Hauptbahnhof soll samt Weichen, Gleisen und neuen Zufahrtswegen unter die Erde verlegt und an eine neue ICE-Strecke angeschlossen werden. Ein unterirdischer Verkehrsknotenpunkt mit acht Gleisen: Stuttgart 21. Es ist das größte Infrastrukturprojekt Deutschlands, sagt die Bahn AG. Eines dieser großstädtischen Riesenprojekte, die Protest hervorrufen, die aber irgendwann nicht mehr zu stoppen sind, obwohl sie teurer und teurer werden. In Stuttgart wird der Widerstand größer und größer, nun beginnen die entscheidenden Wochen der Frist, in denen die Bahn AG doch noch aussteigen kann. Wie ein Graben spaltet dieses Projekt die Stadt. Wie kam es dazu?
Stocker hat sein Protest in den Gemeinderat geführt, auf einer Liste namens SÖS, Stuttgart, Ökologisch, Sozial. Deshalb steht ihm das Rathausbüro mit dem alten Tresorraum zu, aus dem er jetzt herauskommt. Der 65 Jahre alte Schwabe hat ein freundliches Gesicht, bei dem man sich fragt, ob die Furchen von der Empörung in all den Auseinandersetzungen stammen. Er sagt: „Das ist eine richtige Mafia hier.“
Am Anfang war Stocker fast allein. 1995 rief er zum Widerstand auf, ein arbeitsloser Maurer, der auf dem Rathausplatz stand und „Flugis“ verteilte, wie er das nennt. Die Stadtverwaltung war für das Projekt, die Landesregierung, die Bundesregierung. Die CDU, die SPD, die FDP, die Freien Wähler. Die Chefredakteure, die Gutachter, die Unternehmer. Wer wollte schon gegen das einundzwanzigste Jahrhundert sein und wer gegen Stuttgart?
Stocker zog ein Jahr lang mit einer Hand voll Mitstreiter durch die Stadt, auf dass jeder der 300.000 Haushalte ein Flugi bekomme. „Wir wollten eigentlich nur Sand ins Getriebe streuen“, sagt er. Daraus wurde mehr: Architekten, Künstler und Verkehrsplaner sind nun gegen das Projekt. Grüne, Sozialisten und vereinzelt Sozialdemokraten. Auch die Naturschützer von BUND bis VCD schlossen sich mit Stocker zusammen.
Sie erstellten Gegengutachten, rechneten vor, dass ein Tunnelbahnhof störanfällig ist und teurer als geplant. Vor allem den Regionalverkehr könnte er benachteiligen, weil Anschlusszüge nicht mehr aufeinander warten könnten, wie jetzt auf dem Kopfbahnhof mit sechzehn Gleisen. „Der Bahn ging es nicht um einen besseren Bahnverkehr, sondern um ein Immobiliengeschäft“, sagt Stocker. Einhundert Hektar Gleisflächen werden mitten in der Stadt frei, die in einem Talkessel liegt und wo es kein Bauland mehr gibt.
Das ist es, was den Mann begeistert, der im Rathaus eine Etage über Stocker sein Zimmer hat. Dort sitzt Wolfgang Schuster, 60, Christdemokrat, der Oberbürgermeister. Er redet ruhig und sachlich, aber er wirkt müde, wenn er die Brille abnimmt und sich die Augen reibt. Das reiche Schwabenland kämpft mit der Wirtschaftskrise. Porsche von VW übernommen, Daimler bald hinter Audi und BMW, derzeit verhandelt der Finanzausschuss im Rathaus, wo gespart werden soll. Puh. „Ich sehe Stuttgart 21 als große Chance. Manche sehen Großprojekte ja grundsätzlich als Gefahr. Das ist eine Frage der persönlichen Lebenseinstellung“, sagt er. „Welche europäische Großstadt hat diese Chancen zur Entwicklung?“, fragt er. Einen komplett neuen Stadtteil mit Wohnungen, Büros, ein Park. Es gehe auch um ein grünes Projekt, um weniger Flugverkehr, um eine Chance fürs Land, an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz angebunden zu werden, an die Zugverbindung Paris–Budapest und vor allem weniger Lärm, wenn die Züge im Tunnel sind. „Gleisgewurschtel“ nennt er den jetzigen Schienenstrang, der vom Neckar aus in die Stadt drückt und dann jäh im Kopfbahnhof endet.
Schuster kennt die Meinungsumfragen, nach denen eine Mehrheit der Stuttgarter gegen das Projekt ist. Bei der Gemeinderatswahl im Juni haben die Grünen zum ersten Mal seine CDU überholt. Aber mitten in der Krise einer Vision abschwören?
Wenn nach den jetzigen Plänen gebaut wird, könnten die Stuttgarter 2020 ihren Bahnhof beziehen, weitere fünf bis acht Jahre dauert der Umbau der freien Gleisflächen. 3,076 Milliarden soll der Bahnhof samt Tunnelanlagen offiziell kosten, 1,3 Milliarden zahlt die Bahn, 1,16 Milliarden der Bund, den Rest Land, Stadt und Region.
Allerdings, die Sache könnte doch noch kippen. Der neue Bahnchef Rüdiger Grube hat Zweifel geäußert, ob das Geld reicht. Der künftige CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus hat mehr Geld vom Land vorsorglich schon mal ausgeschlossen.
„Mister Stuttgart 21“ ärgert sich
Wolfgang Drexler sagt, Quatsch, das Geld reicht, schließlich gibt es einen Risikofonds. Sie nennen ihn „Mister Stuttgart 21“. Er ist Sozialdemokrat und Sprecher des Verkehrsprojekts. Ein Mann, der aus Überzeugung handelt, sagt er von sich. Für 1.000 Euro Aufwandsentschädigung im Monat will er die Stuttgarter von Stuttgart 21 überzeugen. Stocker und seine Leute schürten Angst, sagt Drexler, ein quirliger Schwabe. „Das muss aufhören.“ Er habe doch selbst bis zu seinem achten Lebensjahr neben einem Bahngleis gewohnt, und das ohne Schallschutz.
Stück für Stück versucht er, die Argumente der Gegner zu zerpflücken. Deren Bahnhofsvariante kostet auch 2,3 Milliarden Euro, mindestens. „Das sind alles Schätzungen. Da ist nichts durchgerechnet, nichts geplant und nichts planfestgestellt. Und es gibt niemand, der es finanzieren und bauen würde.“ Von seinem Fenster aus zeigt er auf den Nordflügel des Bahnhof mit seiner typischen, hellen Muschelkalkfassade: 1924 erbaut von Paul Bonatz, ist er eines der Wahrzeichen der Stadt. Wenn Stuttgart 21 kommt, sollen die Seitenflügel abgerissen werden. Nur der Turm, auf dem sich der Daimler-Stern dreht, und die Bahnhofshalle würden stehen bleiben. „Die erzählen den Leuten doch tatsächlich, es drohe eine Einsturzkatastrophe wie in Köln. Das steht auch in ihrem Flyer, der in ganz Stuttgart verteilt wurde. Ältere Leute rufen bei mir an und denken, wir wären total irre. Reine Panikmache.“ Zum Abschluss zieht er noch eine Gegenbroschüre hervor: „Die Wahrheit über Stuttgart 21“. Unten das Logo: Ein Herz mit einem Zug und der Inschrift „Das neue Herz Europas“. Das soll Stuttgart mal sein, wenn der neue Bahnhof fertig ist.
Von wegen, sagen die anderen. Montagabend, Stuttgart Hauptbahnhof. Gangolf Stocker und 300 Mitstreiter verteilen „Oben bleiben“-Buttons, um Berufspendler vom oberirdischen Kopfbahnhof zu überzeugen. In Drexlers Büroetage brennt noch Licht, falls er gerade hinabblickt, könnte er sie sehen. „Der neue Arsch Europas“ steht auf einem Plakat über einem Tunnel in Gesäßform. Innen in der weiten Bahnhofshalle leuchten die Zugverbindungen an den Anzeigetafeln, die Durchsagen hallen, eine Menge ICEs. Draußen muss Stocker gerade seine Truppe zügeln. Sie pfeifen und buhen, weil die Polizei eine Demonstrantin abführt, die sich nicht ausweisen wollte. Dem Polizisten ist das peinlich, aber Ordnung müsse eben sein, sagt er.
„Der Drexler ist wie ein Lautsprecher, der ständig vor sich hin quatscht“, sagt Stocker. Die beiden haben auf Podien oft diskutiert. Dass der Bahnhof einstürzen könnte? Der Turm, präzisiert Stocker, der habe Fundamente aus Eichenpfählen und die würden faulen, wenn der Grundwasserpegel sinke und sie nicht mehr unter Wasser stehen. Die Bahn stütze sich ausgerechnet auf einen Gutachter, der auch der Kölner U-Bahn Stabilität bescheinigt hätte. Dagegen verweist die Bahn auf Probebohrungen und Erfahrungen mit der Stuttgarter S-Bahn. Egal – die Demonstranten schenken den Daten und Aussagen der Bahn-Manager eh keinen Glauben mehr, vor allem nicht ihrer Kostenrechnung.
2008 kamen „Vieregg & Rössler“ nach Stuttgart, die zwei Gutachter, die als Transrapid-Killer gelten. Sie haben Edmund Stoibers Magnetschwebebahn in Bayern durch ihre Kostenkalkulation gestoppt. Sie sagten auf einer Pressekonferenz, auch Stuttgart 21 werde mehr als doppelt so teuer wie offiziell geplant. Ihre Vorgehensweise war simpel. Sie rechneten mit einer statistischen Methode nach, wie teuer Tunnelprojekte normalerweise sind und um wie viel die Kosten dafür in den letzten Jahren etwa wegen höherer Rohstoffpreise oder Löhne gestiegen sind. Die Bahn hatte Preissteigerungen aus dem Tiefbau herangezogen und kam zum Schluss, es sei mit 1,5 Prozent im Jahr zu rechnen. Vieregg & Rössler dagegen gingen von zwei bis fünf Prozent aus. Zudem stellten sie fest, dass gegenüber den ursprünglichen Planungen nun mehr Tunnels gebohrt werden müssen, obwohl die Bahn das bestreitet.
Das Gutachten der Transrapid-Killer
Die Befürworter von Stuttgart 21 fegten das Gutachten vom Tisch. Drexler nannte es ein „Schlechtgutachten“, die Landesregierung sprach von Desinformation – und räumte nebenbei 200 Millionen Zusatzkosten ein. Für Stocker war es der Schwarz-auf-weiß-Beweis seiner Ansicht, dass ein Milliardengrab droht.
Niemand hier ist mehr für die Argumente der anderen Seite zugänglich. Vielleicht muss man ganz an den Anfang zurückgehen, um nachvollziehen zu können, warum.
Am Anfang steht ein Herr, der heute seinen Lebensabend in einem Reihenhaus in Stuttgart-Silberwald genießt. Silberwald ist eines der von Wäldern umringten, idyllischen Vordörfer von Stuttgart. Der emeritierte Professor Gerhard Heimerl kennt „Stuttgart 21“ auswendig. Er ist ein präziser, kantiger Ingenieur mit fränkischem Rollen in der Stimme. Bis ins Jahr 2000 war er Leiter des Verkehrswissenschaftlichen Instituts in Stuttgart, für die Gegner des Projekts die Ausgeburt von Parteilichkeit: Es bekommt Drittmittel von der Bahn. Heimerl sagt: Woher denn sonst? Wer baut denn sonst Schienennetze in Deutschland? Dass sie ihn für parteiisch halten, scheint den Professor eher zu verwirren als zu empören.
Im Jahr 1988, erzählt er, hat er mit dem damaligen Bundesbahn-Chef und dem Oberbürgermeister von Ulm zusammengehockt. In diesem Jahr stellte der neue Hochgeschwindigkeitszug ICE mit einer Geschwindigkeit von über 400 Kilometern pro Stunde einen Weltrekord auf. Zwischen Mannheim und Stuttgart war eine Neubaustrecke im Bau, nur: nach Stuttgart war Schluss. Ausgerechnet mitten im Hightech-Ländle sollten die neuen Superzüge gemächlich durch das Neckar- und das Filstal weiter nach Ulm bummeln?
„Wir brauchen was ganz Neues“, sagte Heimerl dem Bahnchef. Raus aus dem dicht bebauten Neckartal. Er zeichnete auf einer Landkarte erst einen geschwungenen Bogen direkt aus dem Stuttgarter Talkessel den steilen Hang hinauf, ein Tunnel. Und dann diesen Strich, entlang der Autobahn nach Ulm: Die Neubaustrecke Stuttgart–Ulm, auf der der ICE sogar die Fahrzeuge von Daimler überholen würde.
Der Bau dieser Hochgeschwindigkeitsstrecke ist heute unumstritten, sogar die Gegner des Tiefbahnhofs finden sie gut. An einen komplizierten unterirdischen Bahnhof dachte Heimerl noch gar nicht, nur an eine Haltestelle. Sein Entwurf der Strecke trug die Faszination des Neuen und Klaren in sich. Das Projekt bekam Schwung.
Ingenieure setzten sich mit Politikern und Bahnmanagern zusammen, Heimerl war dabei. Sie entwarfen und rechneten. Die Landesregierung wollte eine Strecke über den Flughafen Stuttgart. Und sie wollte, entgegen den Vorstellungen der Bahn, einen Bahnhof in der Innenstadt, nicht etwa einen neuen in einem Vorort. Alternative Strecken durchs Neckartal, eine Renovierung des alten Kopfbahnhofs, alles, was die Projektgegner jetzt forderten, sei bereits durchgerechnet gewesen, sagt Heimerl. Nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Vielleicht ist das der Grundfehler. Dass Stuttgart 21 ohne die Stuttgarter geplant wurde.
Oft ist es schwer, das Geld für ein Riesenprojekt zu besorgen. Zeit vergeht und die Öffentlichkeit kann noch einmal genauer hinsehen. Aber als in Stuttgart 1994 schließlich ausbaldowert war, dass es ein Tiefbahnhof werden soll, fiel die Grundsatzentscheidung für das Milliardenprojekt sehr schnell.
Der Grund ist eine Konstellation, die heute in Stuttgart als „Maultaschen-Connection“ veräppelt wird. Denn zu dieser Zeit hatten die Schwaben Bahn-Angelegenheiten der Republik fest im Griff. Bundesverkehrsminister war der Ludwigsburger Matthias Wissmann, an der Spitze der Bahn stand der Stuttgarter Heinz Dürr. Sie verguckten sich in das Prestigeprojekt in ihrer Heimat. Der Ministerpräsident Erwin Teufel hatte sowieso ein Faible für Fusionen und Megavorhaben.
Im April 1994 präsentierten Wissmann, Dürr und Teufel ihr Stuttgart 21. Liest man die Sätze von damals, stellt man sie sich wie Jungs vor, die ihre neue, unglaublich große Modelleisenbahn vorführen. Kein Superlativ sei dafür zu groß, jubelte Teufel, die Stuttgarter Zeitung sah eine zweite Stuttgarter Stadtgründung bevor, Dürr ein neues, komfortableres und schnelleres Bahn-Zeitalter heraufziehen, Wissmann prophezeite Perspektiven weit über die Grenzen des Jahrhunderts hinaus.
Die Finanzierung war noch unklar. Politisch aber hatte sich die schwäbische Allianz vorschnell festgelegt. Vielleicht zwei Milliarden Mark könnte alles kosten, durften ein paar Experten streuen, davon würde man eine Milliarde wieder durch den Verkauf von Grundstücken einnehmen.
Stuttgarts OB Wolfgang Schuster
Vor den Bürgern stand nun das Modell des Bahnhofes, der ihre Stadt verändern sollte. Beim Aufbau hatten sie nicht mitmachen dürfen. Das gefiel ihnen ganz und gar nicht.
So passierte es, dass der Einzelkämpfer Gangolf Stocker zu einem der Anführer einer Bewegung wurde. Er machte richtig, was seine Gegner falsch gemacht hatten. „Wir haben uns in der Bevölkerung getummelt“, sagt er. Er verteilte nicht nur Flugblätter und bequatschte die Grünen, der frühere Kommunist kümmerte sich nun darum, das Bürgertum auf seine Seite zu bringen. Er schwätzte mit Leuten, die in den vornehmen Gegenden wohnen, den Halbhöhenlagen über der Stadt.
1996 gewann der Grüne Rezzo Schlauch mit einem Wahlkampf gegen Stuttgart 21 um ein Haar die OB-Wahl gegen Wolfgang Schuster. 1997 sammelten die Gegner des Bahnhofs 13.000 Unterschriften, ein Bürgerbegehren kam aber nicht zustande.
Die Stadtverwaltung machte weiter und Schuster erklärte das Projekt für „unumkehrbar“. Immer mehr Steuergelder flossen, die Stadt kaufte der Bahn Grundstücke ab, das Land finanzierte eine Milliarde Mark vor. Parallel erhielt die Bahn den Zuschlag, die nächsten zehn Jahre den Nahverkehr in Baden-Württemberg zu übernehmen – ohne öffentliche Ausschreibung. Ein stille Querfinanzierung für Stuttgart 21. Immer wieder weigerte sich die Mehrheit im Gemeinderat, etwas zu ändern. Die Bürger wurden unzufriedener. 2007 wurden wieder Unterschriften gesammelt. 67.000 kamen diesmal zusammen, in einer Stadt mit knapp 600.000 Einwohnern. Abermals lehnte der Gemeinderat ein Bürgerbegehren ab.
Am 2. April 2009 unterschrieben Vertreter von Bund, Land und Bahn die endgültige Finanzierungsvereinbarung – das ist der Sieg für die Verfechter des Tiefbahnhofs. Am 7. Juni 2009 wurden die Grünen bei der Kommunalwahl stärkste Fraktion – das ist der Erfolg für die Stuttgart-21-Gegner.
Jetzt rechnet der Bahn-Chef noch mal nach
Alle schauen jetzt auf die Deutsche Bahn AG. Bis Ende des Jahres könnte sie doch noch aussteigen aus Stuttgart 21. In den nächsten Wochen wollen sich ihre Fachleute erneut die Zah- len vornehmen, kalkulieren, nachprüfen. Der Bahn-Chef sagt, dass er ehrliche Zahlen will, egal ob sie angenehm oder unangenehm sind. Seltsam nüchtern klingt das bei diesem Projekt, das vor über zwanzig Jahren begann, bei dem es um eine Vision geht, um Superlative, ums politische Überleben seiner Befürworter.
Ein historisches Projekt wird sich am Ende durchsetzen, sagt Wolfgang Schuster, der Oberbürgermeister. Ein Irrsinnsprojekt wird hier durchgezogen, sagt Gangolf Stocker, der Gemeinderat.
Sie halten fest an ihren Standpunkten, jeder auf seiner Etage im Rathaus, jeder auf seiner Seite des Grabens.
Nur Gerhard Heimerl, der Professor, der am Anfang von Stuttgart 21 stand, findet etwas Selbstironie: „Wenn der Bahnhof nicht kommt“, sagt er, „dann hänge ich mich auch nicht auf.“
Es ist ein kleiner freundlicher Zuruf über den Graben von Stuttgart.
■ Ingo Arzt, 31, ist Stuttgart-Korrespondent der taz. Seine erste Reportage schrieb er mit 14 über die Fahrt in einem ICE-Führerhaus