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Die Angst vor der Angst

GEWALT Berlin ist keine besonders gefährliche Stadt, das zeigen alle Statistiken. Doch die interessieren niemand, wenn mitten in der City ein Mensch totgeprügelt wird. Muss man sich fürchten? Und wenn ja: Vor wem?

„Wenn man zur falschen Zeit am falschen Ort ist, kann das schiefgehen“

STREETWORKER HÜSEYIN YOLDAS

VON JULIA AMBERGER UND ALKE WIERTH (TEXT), PIERRO CHIUSSI (FOTOS)

Zwei Monate nach der Tat brennen sie noch immer: die Kerzen auf dem Alexanderplatz. Ein Baldachin schützt sie vor dem Schnee, der die Stadt in ein schönes Weiß hüllt – ein freundliches, sauberes, ein unschuldiges Weiß. Auf dem Alex hindert eine grüne Plastikplane dieses Weiß daran, einen Ort zuzudecken, der alles andere als rein ist: Es ist ein Ort der Schuld.

Am 14. Oktober wurde hier der 21-jährige Jonny K. von sechs jungen Männern so brutal verprügelt, dass er kurz darauf an schweren Schädelverletzungen starb. Aberhunderte brachten seither Blumen und Kerzen zum Tatort. Die brutale Tat mitten in ihrem Zentrum erschütterte die Stadt. Und sie war nicht die einzige: Kurz zuvor war auf dem Alex ein Mann niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt worden. Ende November wurde dort ein junger Mann bei einer Schlägerei schwer verletzt.

Von Berlins „Gewaltproblem“ schreiben Zeitungen seither, von der „dunklen Seite“ der Stadt und der „Angst im Nacken“. Mehr Polizei, mehr Videoüberwachung lauten die Forderungen an die Politik. Darauf hat sie bereits reagiert hat: Eine „mobile Polizeiwache“ – sprich einige Polizisten in einem Auto – soll den Platz sicherer machen, der Innensenator kam zur Einweihung.

Doch helfen solche Maßnahmen gegen die Angst? Ein anderer Fall grausamer Gewaltkriminalität, der Berlins Öffentlichkeit im vergangenen Jahr erregte, ist gut dokumentiert: Videokameras zeichneten auf, wie im April 2011 auf dem U-Bahnhof Friedrichstraße ein 18 Jahre alter Schüler einen 29-Jährigen brutal zusammentrat. Trotz Überwachung.

Die Angst bleibt.

Auch wenn sie eigentlich unbegründet ist: Rein statistisch gesehen, ist Berlin keine besonders gefährliche Stadt. Anders als zum Beispiel Aachen: In der Kriminalitätsstatistik des Bundeskriminalamts führt die nordrhein-westfälische Stadt bundesweit in Sachen Mord und Totschlag: 6,6 Fälle pro 100.000 Bewohner im Jahr 2011. Berlin liegt mit 3,7 Fällen weit dahinter, und auch hinter Städten wie Wiesbaden, Hannover oder Frankfurt.

Bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung – die aufgrund der höheren Fallzahlen wesentlich aussagekräftigere Statistik (siehe Grafik) – steht Berlin mit 305 Fällen auf 100.000 Einwohner ebenfalls nicht an der Spitze: Viel gefährlicher sind etwa Dortmund und sogar das als beschaulich geltende Freiburg. Eine relativ sichere Stadt ist Berlin zudem im internationalen Vergleich: Laut dem europäischen Amt für Statistik gab es hier im Jahr 2009 genau 62 Tötungsdelikte; fast doppelt so viele waren es im selben Jahr in London, über siebenmal mehr in New York. Moskau führte 2005 mit 1.278 Fällen die internationale Rangliste an – und legte danach keine Zahlen mehr vor.

Die öffentlich gefühlte Zunahme von Jugendgewalt lässt sich statistisch ebenfalls nicht belegen, sagt der Konstanzer Soziologe und Kriminologe Gerhard Spiess, der die Entwicklung von Jugendkriminalität in Deutschland untersucht. Weder im Vergleich mit anderen Großstädten noch im Vergleich zum Vorjahr gebe es für Berlin „Anlass zur Dramatisierung“.

Und laut der Berliner Polizeistatistik hat sich die sogenannte Jugendgruppengewalt seit 2008 um mehr als 20 Prozent reduziert. Gesunken ist zudem die Zahl jugendlicher und heranwachsender Tatverdächtiger: um acht beziehungsweise neun Prozent. Es wachse keineswegs eine Art „Monstergeneration“ heran, die Erwachsene bedrohe, so Spiess: Mehrheitlich seien die Opfer der Gewalt männlicher Jugendlicher nämlich männliche Jugendliche selbst. Und in dem im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil insgesamt hohen Anteil junger Menschen an der Zahl der Tatverdächtigen sieht Spiess eher einen Beleg für deren „kriminelle Unprofessionalität“: „Die registrierten Delikte junger Menschen sind überproportional häufig Bagatelldelikte. Es sind Delikte, die typischerweise leicht aufzuklären sind, weil sie von unprofessionellen Tätern dilettantisch begangen werden.“

Doch die „Angst im Nacken“ lässt sich von Zahlen nicht vertreiben. Denn Sicherheit bieten die nicht.

Das lernt etwa, wer im Kriminalitätsatlas der Berliner Polizei nach sicheren Orten und No-go-Areas sucht. Der Atlas weist die von Kriminalität besonders belasteten Gebiete der Stadt aus – und hilft doch nicht weiter. Tegel etwa erscheint dort in leuchtendem Rot aufgrund von mehr als 25.000 Delikten pro Jahr. Allerdings ist nicht der Stadtteil selbst so gefährlich: Grund für die hohe Zahl ist die Justizvollzugsanstalt, in der mehr als zehn Prozent der Tegeler Straftaten, bei Rauschgiftsachen sogar über 80 Prozent geschehen – No-go-Area Knast also. „Hohe Häufigkeitszahlen“, heißt es folgerichtig im Kriminalitätsatlas 2011, „sind nicht automatisch ein Zeichen negativer Wohn- und Lebensqualität.“ Sie können auch „Ausdruck besonderer Lebendigkeit und Beliebtheit von Gebieten sein.“ Das gilt etwa für die roten Bereiche in Mitte und Charlottenburg. Und für den Alexanderplatz.

Was schützt uns also vor der Angst?

„Es gibt keinen Ort in Berlin, an dem man sich nachts unsicher fühlen muss“, meint der Streetworker Hüseyin Yoldas. Eigentlich seien alle Straßen „begehbar“. Und auch wieder nicht: „Wenn man zur falschen Zeit am falschen Ort ist, kann das schiefgehen“, so Yoldas. Der Sozialarbeiter arbeitet für den Verein Gangway und betreut Jugendliche in Schöneberg. Gewalt sei für viele normal, „sie gehört zum Leben“, sagt Yoldas.

Viele Studien belegen, dass Täter von Gewaltverbrechen selbst Opfer von Gewalt sind oder waren, häufig in der eigenen Familie. Dagegen wehrt sich eine steigende Zahl von Opfern auf ihre Art: „Wir hören immer öfter, dass Kinder muslimischer Familien ihre Eltern schlagen und damit ein großes Tabu im Islam brechen“, berichtet Yoldas. Den Grund sieht er in einem „Werteverfall“. Familien zerbrächen: „Damit löst sich die soziale Ordnung auf, in die die Kinder sich eingebunden fühlten.“ Als weiteren Grund für Gewalt nennt er die soziale Ungleichheit: „Nimmt die weiter zu, wird auch die Gewaltkriminalität steigen.“

Ähnlich beurteilt das Helmut Thome: „Wenn soziale Ungleichheit weiter zunimmt, führt das zu einem Anstieg der Gewaltkriminalität.“ Der Soziologieprofessor der Universität Halle verfolgt die Entwicklung von Kriminalität seit den 1950er Jahren. Einkommensunterschiede vergrößerten sich, Hartz-IV-Empfänger würden abgewertet, Kommerzialisierung und die Auflösung von Bindungen führten zu „emotionaler Verarmung“ und reduziertem Einfühlungsvermögen, so Thome. Die von der Politik beschworene „Chancengleichheit“ sei zudem nicht gleichbedeutend mit „Ergebnisgleichheit“: Der Mangel an Ressourcen wie ökonomischem, sozialem oder kulturellem Kapital führe bei Einzelnen zu Erfolgs- und Anerkennungsdefiziten: „Das kann verursachen, dass sie sich nicht mehr unter Kontrolle haben.“

Gewalt entwickele sich im Zusammenhang mit der Abwertung schwacher Gruppen, betont schließlich der Bielefelder Pädagoge und Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, Wilhelm Heitmeyer. Auch er sieht einen Grund für Gewalt in der zunehmenden sozialen Spaltung.

Selbst das Verstehen der Täter löst also die Angst vieler Menschen nicht auf. Im Gegenteil: Die Prognose der Experten ist düster. Wird also doch alles immer schlimmer?

Nein, sagt Kriminologe Spiess. Und verweist erneut auf Statistiken: Nicht nur die Fälle der Gewaltkriminalität sänken seit Jahren. Zwar beeinflusse die „oft dramatisierende“ Berichterstattung in vielen Medien nach einzelnen Gewaltfällen das Sicherheitsempfinden der BürgerInnen für eine gewisse Zeit. Befrage man die Deutschen aber nach den Gründen ihrer Ängste, rangiere Kriminalität stetig weit hinten, so Spiess: Nur drei Prozent benennen sie in einer europaweiten Umfrage als Ursache, im EU-Durchschnitt sind es acht Prozent. Vorn liegen die Furcht vor steigenden Preisen, vor Arbeitslosigkeit, steigenden Steuern sowie sinkenden Renten – Angst vor Armut, Abstieg, sozialer Ausgrenzung also: vor genau dem, was manche Menschen zu Tätern werden lässt.

Liegt genau da der Schlüssel gegen unsere von erschreckenden Gewalttaten hervorgerufene Angst? „Wenn Menschen nur noch nach Nützlichkeit und Effizienz und Verwertbarkeit bewertet werden, entsteht eine Ideologie der Ungleichwertigkeit“, sagt der Bielefelder Heitmeyer. Diese soziale Spaltung sei bedrohlich. „Vielleicht erklärt das auch, warum manche Politiker, wenn eine Fernsehkamera in der Nähe ist, lieber die Kriminalität zum Thema machen als die Versäumnisse in der Sozialpolitik“, ergänzt der Soziologe Spiess. Und Streetworker Yoldas hat beobachtet: „Insbesondere wenn Gewalttaten Menschen treffen, die zuvor nie Gewalt erfahren haben, schockiert das die Öffentlichkeit.“

Vielleicht ist die Angst, die sich nach solchen Gewalttaten artikuliert, also gar keine vor tatsächlicher Kriminalität. Sondern ein Ausdruck des Entsetzens, der entsteht, wenn kurzzeitig deutlich wird, welchen Preis die Spaltung der Gesellschaft kostet. Und die Furcht davor, ihr selbst zum Opfer zu fallen: Sei es durch die Brutalität einzelner Täter, oder durch die der sich spaltenden Gesellschaft selbst.

„I am Jonny“, heißt die Stiftung, die die Schwester des auf dem Alexanderplatz Getöteten ins Leben gerufen hat. Mit ihr will sie Jugendlichen Perspektiven abseits von Gewalt aufzeigen. „I am Jonny“ heißt auch: Wir alle können Opfer werden.

Es ist gut, wenn die Kerzen am Alex noch lange brennen. Vielleicht sind sie der Anfang einer neuen Solidarität.

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