: Tsunami historischer Gelehrsamkeit
WISSEN Großer Wurf: Die „Geschichte der Welt“ von Akira Iriye und Jürgen Osterhammel bei Beck und Harvard UP
VON DETLEV CLAUSSEN
Im Bett tut einem bald die Hand weh und man muss es weglegen. 1.152 Seiten liegen auf dem Tisch: „Geschichte der Welt“, ein Gemeinschaftsunternehmen von C. H. Beck und Harvard University Press. Und das ist nur der erste erschienene Band eines von den renommierten Historikern Akira Iriye und Jürgen Osterhammel geplanten sechsbändigen Mammutunternehmens.
Wenn schon Globalgeschichte, dann richtig, müssen sich die Verleger gesagt haben. Eine Person allein kann das gar nicht leisten; auch wenn man es jemandem wie Jürgen Osterhammel, der das ungeheuer informierte Jahrhundertbuch über das lange 19. Jahrhundert „Die Verwandlung der Welt“ geschrieben hat, zutrauen würde. Aber er hat den emeritierten Harvardprofessor Akira Iriye zur Seite bekommen, um ihren weltweiten Kollegenfundus zu mobilisieren. Der vorliegende Band „1870 – 1945. Weltmärkte und Weltkriege“ wird von der kalifornischen Historikerin Emily S. Rosenberg herausgegeben, die wiederum für die einzelnen Kapitel die Besten der Besten auf dem Historikermarkt gewonnen hat.
Wer historisch up to date sein will, muss dieses Buch lesen, das dem Leser helfen will, die Gegenwart zu erkennen. Mit diesem fünften Band des Gesamtunternehmens, der in der geplanten Reihe als erster erscheint, wird die Vorgeschichte der globalisierten Welt thematisiert. Die Periodisierung 1870 bis 1945 kommt einem ungewöhnlich vor, hatten doch die von Eric Hobsbawm popularisierten Einteilungen von long century (1789 bis 1914) und short century (1917 bis 1990) durchaus Sinn ergeben.
In der von Iriye und Osterhammel propagierten Epoche erscheinen die Weltkriege nun als Teil eines sich verdichtenden Kontinuums von Ökonomie und Gewalt, nicht als Zäsur, die den Ersten Weltkrieg von der Belle Époque trennt. Nicht zu übersehen ist das konsequente Bemühen der Herausgeber, mit einer eurozentrischen Weltsicht zu brechen, die noch die Nationalgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts dominierte. Die mit dem Epochenbruch von 1990 sich durchsetzende Globalgeschichte befreit die Historiografie von ihren nationalen Scheuklappen, schärft das Sensorium für Gleichzeitigkeit und öffnet den Blick auf den globalen Zusammenhang.
Für dieses Konzept einer neuen Geschichtsschreibung kann der Band „1870 – 1945“ exemplarisch einstehen. Er ist von der Herausgeberin Emily S. Rosenberg in fünf Kapitel unterteilt worden: „Leviathan 2.0. Die Erfindung moderner Staatlichkeit“ von Charles S. Maier, „Imperien und Globalität“ von Tony Ballantyne und Antoinette Burton, „Migration und Zugehörigkeiten“ von Dirk Hoerder, „Warenketten in einer globalen Wirtschaft“ von Steven C. Topik und Allen Wells und last but not least Emily S. Rosenberg selbst über „Transnationale Strömungen in einer Welt, die zusammenrückt“. Was alle fünf Kapitel zusammenhält, ist die schon von dem Geografen David Harvey benannte „time-space-compression“, auf die sich auch Frau Rosenberg beruft, ohne ihn zu zitieren.
Es haftet aber auch ein gewisses Maß von Willkür an der Entscheidung, unbedingt den Zeitraum dieser sieben Jahrzehnte nach 1870 als einheitliche Epoche zu wählen. Schon der staatliche Rahmen, in dem sich diese zeiträumliche Verdichtung abspielt, muss, wie Charles Meier es vornimmt, weit vor 1870 angesetzt werden. Das Gleiche gilt für die Imperien, die noch das lange 19. Jahrhundert beherrscht haben, ganz im Gegensatz zum westlichen Alltagsglauben, der Nationalismus sei die beherrschende Kraft dieses Zeitalters gewesen. Aber den Albtraum der Vergangenheit, Nationalismus und Nationalgeschichtsschreibung, die noch das short century bis zu seinem Untergang dominierten, wird man nicht durch epistemologische Paradigmenwechsel los.
Der angloamerikanischen Akademie ist es noch zur Zeit des Kalten Krieges gut bekommen, dass sie keine Berührungsängste mit der Marx’schen Theorie entwickelte. Dazu trugen auch die zahlreichen Emigranten aus Kontinentaleuropa bei: Namen wie Karl W. Deutsch, Karl Polanyi und Eric Hobsbawm stehen für eine weltoffene Wissenschaft, die auch eine fruchtbringende Lektüre von Rosa Luxemburg, Nikolai Bucharin und Rudolf Hilferding nicht scheuten. Untergründig sind diese alten Autoren in der neuen Globalgeschichte präsent; aber die Spuren zur Theoriebildung verlieren sich im überwältigenden Material. Historiker behelfen sich meistens mit kulturwissenschaftlichen Hilfskonstruktionen, um absolut modern zu erscheinen. Ohne „Identität“ und „Gender“ glaubt niemand auskommen zu können.
Offen für Neues, von alten Schemata lösen
Die meisten neueren kulturwissenschaftlichen Kategorien eignen sich zum Labeln der gewaltigen Stoffmengen; aber sie können begriffliche Arbeit nicht ersetzen. Um für Neues offen zu sein, muss man sich von alten Schemata lösen. Wir stehen offensichtlich erst am Anfang des Begreifens eines Prozesses, der mit dem Schlagwort „Globalisierung“ benannt wird. Die Erkenntnis, dass sie nicht erst begann, als das Schlagwort gefunden war, hat Jürgen Osterhammel schon in einem kleinen Beck-Taschenbuch auch dem Laien klargemacht. Aber jetzt kommt mit dem fünften Band der Beck-Harvard-Weltgeschichte ein Tsunami historischer Gelehrsamkeit auf das Publikum zu.
Wer sich Zeit nimmt und Geduld hat, wird durch die Lektüre reich belohnt. Das von Dirk Hoerder verfasste Kapitel „Migrationen und Zugehörigkeiten“ präsentiert einem die Ergebnisse einer lebenslangen Forschung; in einem ganzen Semester kann man nicht das lernen, was hier auf 150 Seiten ausgebreitet wird.
Migrationserfahrungen haben wesentlich mehr Menschen gemacht, als sich Einwanderer zählen lassen. Binnenmigrationen wie in China, Indien oder Brasilien sind viel zu wenig beachtet worden, tragen aber entscheidend zur Modernisierung ganzer Weltregionen bei.
Auch das Verhältnis von außerökonomischem und ökonomischem Zwang muss differenzierter betrachtet werden, als es die leichtfertige Rede von „Wirtschaftsflüchtlingen“ unterstellt. Der Leser wird überrascht sein über die vielfältigen Knechtschaftsverhältnisse, die zum push and pull von Migrationen führten – es gibt nicht nur Sklaverei und freie Lohnarbeit. Hoerders grandioser Überblick eignet sich dazu, vorgefasste Meinungen aufzulösen. Praktisch wird durch das Studium der Migrationen der kulturpolitischen Vorstellung „nationaler Identität“ der Boden entzogen; umso mehr verwundert es, wie naiv Hoerder die Theoreme von Benedict Anderson zu den „imagined communities“ und Eric Hobsbawm zur „invention of tradition“ verwendet. Sie werden als bekannt vorausgesetzt, aber ihre Notwendigkeit nicht auf den Stoff reflektiert. Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich.
Mit großem Interesse lässt sich auch das Kapitel „Warenketten in einer globalen Wirtschaft“ der in Irvine lehrenden Topik und Wells lesen. Das Studium des Warenverkehrs soll belegen, was Polanyi „Great Transformation“ genannt hat, und zugleich beweiskräftiges Material für das Entstehen der „Great Divergence“ liefern, die Kenneth Pommeranz untersucht hat – das heißt also die Kluft unterschiedlicher Einkommens- und Machtverteilung in der Welt, die aber in den letzten zwanzig Jahren ins Wanken geraten ist. Interessanterweise konzentrieren sich die kalifornischen Forscher auf Grundnahrungsmittel wie Weizen und Reis und auf Genussmittel wie Zucker, Kaffee, Tee, Kakao und Tabak, ohne den politischen und ökonomischen Rahmen aus dem Auge zu verlieren.
Ihr Kenntnisreichtum und ihre weitgefächerten Interessen ermöglichen Einblicke in tiefgreifende Veränderungen, die noch die Erfahrungswelt der Generationen vor uns bestimmt hat. Was dieser Materialsammlung fehlt, ist ein Begriff gesellschaftlicher Veränderung, der nicht nur der Geschichtswissenschaft, sondern auch der Soziologie abhanden gekommen ist. Man fühlt sich bei der Lektüre dieser gewaltigen Weltgeschichte, als ob man in einem riesigen Warenhaus historischen Wissens über Nacht eingeschlossen wäre, aber man doch den Morgen herbeisehnt, wenn wieder aufgeschlossen wird.
Der Autor lehrt Soziologie an der Universität Hannover.
■ Akira Iriye und Jürgen Osterhammel (Hg.): „Geschichte der Welt, Bd. 5, 1870 – 1945. Weltmärkte und Weltkriege“. Bandherausgeberin Emily S. Rosenberg. C. H. Beck, München 2012, 1.152 S., 48 Euro