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Archiv-Artikel

Für die innere Balance

FOTOGRAFIE Mit „Bilder von Welt“ endet ein vierteiliges Ausstellungsprojekt der Fotoetage in der Böttcherstraße, das mehr ist als ein Ausgleich zur Erwerbsarbeit

Selbst das stille Örtchen der Ausstellung ist einen Besuch wert – der waghalsige Anblick von Zackenspiegeln und planlos anmutenden Deckendurchbrüchen wurde barock aufgehübscht

VON LUCY M. LAUBE

Unten in der Böttcherstraße schieben sich wie gewohnt Touristengruppen durch die schmale Gasse und bewundern das Glockenspiel. Den Eingang und die Treppe zu den Ausstellungsräumen im ehemaligen Spielcasino nehmen sie gar nicht wahr. Das ist schade. Denn jenseits der Attraktionen aus dem Reiseführer, könnten sie hier – in zentralster Lage – Fotokunst sehen, die spannende Geschichten erzählt. „Von Vegesack bis Buenos Aires“ und „von Bornholm in die Ukraine“, wie die Ankündigung verrät.

Was hier, in den charmant abgerockten Räumen zu sehen ist, ist ein Sammelsurium an Stilen, Formaten und Themen – und wirkt dabei doch keineswegs konzeptlos. Das Kollektiv freier Fotografen, die sich zur Fotoetage zusammengeschlossen haben, zeigt hier gemeinsam mit befreundeten Fotografen Bilder aus den letzten zehn Jahren. Darunter sind freie Fotoserien, Reportagen, Auftragsarbeiten, entstanden in aller Welt, „Bilder von Welt“ haben sie die Ausstellung genannt, weil das so schön mondän klingt.

Die Autoren und Autorinnen, wie sie sich lieber nennen, weil sie schließlich mit ihren Bildern Geschichten erzählen, hatten offenbar durchaus Vergnügen beim Arrangieren der Fotos, wobei sie sich durchaus von den Besonderheiten der Räume inspirieren ließen, denen die ehemalige Nutzung als Kantine des Spielcasinos noch anzusehen sind. Ein Bild mit Kabeln ist zwischen echte Kabel und Rohre in eine Ecke gequetscht, ein weiteres, auf denen zerschlissene Sessel zu sehen sind, hängt neben einer echten Sitzgruppe. Selbst das stille Örtchen der Ausstellung ist einen Besuch wert – der waghalsige Anblick von Zackenspiegeln und planlos anmutenden Deckendurchbrüchen wurde barock aufgehübscht. In einem hinteren Winkel der Etage finden sich noch Reminiszenzen aus vorhergehenden Ausstellungen.

Seit September haben die Fotografen und Fotografinnen die Räume in der Böttcherstraße angemietet – und können hier erstmals Ausstellungen ganz nach eigenem Gusto zeigen. „Bilder von Welt“ ist nun der vierte und vorerst letzte Teil des Ausstellungsprojekts, der Zwischennutzungsvertrag läuft Ende Dezember aus.

In den ausgestellten Arbeiten hat Situationskomik ebenso Platz wie Ästhetik und eher politisch-gesellschaftskritische Aussagen. Da wäre zum Beispiel die Fotoserie von Kay Michalak, die beim Prager Gipfel von Weltbank und Internationalem Währungsfonds im Jahr 2000 entstanden ist – ein Bild zeigt einen Mann im Anzug, der zusammengekauert in einem tristen Flur hockt. Ist ihm schlecht, oder setzt er sich gerade einen Schuss? Nein, er telefoniere, klärt Michalak auf, nur ist dies auf dem Foto nicht zu sehen. Gaby Ahnerts Arbeit „China putzt für Olympia“ zeigt Wischmopps, mit denen in chinesischen Städten die Straßen saubergehalten werden. Die politische Fährte, die der Titel legt, führt indes in die Irre: Auch ohne Olympia gehört das Straßenmoppen zum Alltag. Fotografie sei keine Abbildung von Wirklichkeit, sondern eine mögliche Betrachtungsweise, wie Kay Michalak erklärt.

Nikolai Wolff zeigt eine Bilderserie aus Buenos Aires. Die Stadt habe eine „unglaubliche Poesie, eine Melancholie“, sagt er, sie sei „ein Moloch der enttäuschten Hoffnungen“. Wenn ein Fahrstuhl „sein Gedächtnis verloren hat“, nehmen die Menschen eben die Treppe – oder sie laufen durch Straßen, in denen es goldene Taler regnet.

Alasdair Jardine zeigt Fotos aus Moldawien – ein Langzeitprojekt. Er dokumentierte die absurde Situation von Eltern, die ins Ausland gehen, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, während diese ohne Eltern aufwachsen und das herangeschaffte Geld „verbrennen“, wie Jardine erklärt, indem sie etwa sinnlos mit dem Auto herumkurven und Party machen.

Die Ausstellung insgesamt diene der inneren Balance, als Gegengewicht zu Auftragsarbeiten, mit denen die Ausstellenden, zu denen neben den Genannten auch Julia Baier, Cindi Jacobs, Michael Jungblut, Julian Kruel, Marcus Meyer und Tristan Vankann gehören, ihr Geld verdienen.

Sehr wichtig ist es ihnen allen, mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen, zu erfahren, wie ihre Bilder wahrgenommen werden. Weshalb es nur eingeschränkte Öffnungszeiten gibt, die es dafür in sich haben: Am kommenden Samstag laden sie zu Besichtigung und Diskussion. Künftig, erklärt Wolff, sollen auch Experten eingeladen werden, zum Beispiel Architekten für eine Fortsetzung der Reihe zur Stadtarchitektur.

■ Samstag, 15–19 Uhr: Diskussion/Führung; Samstag, 29. Dezember, 19.30 Uhr: Finissage und Party mit Tanz, Eingang Chateau, Haus St. Petrus, Böttcherstr. 3