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Archiv-Artikel

Schöne Bescherung

AUSBEUTUNG Der Advent ist die Zeit der Besinnung und der Weihnachts-märkte. Für Justyna Truszkowska und Martyna Szubert ist nichts besinnlich in Berlin. Sie mussten für knapp 2,50 Euro die Stunde schuften und fühlen sich um ihren Lohn gebracht. Nun wehren sie sich

„Nach dem Arbeitsunfall sagte Schmidt, ich soll zurück nach Polen fahren“

JUSTYNA TRUSZKOWSKA

VON UWE RADA UND JOANNA ITZEK

Sie sind noch einmal zurückgekehrt. Zum Alexanderplatz. Zum Weihnachtsmarkt vor der Galeria Kaufhof und zum großen Rummel hinter dem Alexa. Justyna Truszkowska und Martyna Szubert kennen sich aus im Gewirr der Gassen zwischen all den Buden. „Fröhliche Weihnacht überall“, tönt es aus einem Lautsprecher. Für die beiden Polinnen klingt es wie Hohn.

Vor einem Stand von „Schmidts Weihnachtsbäckerei“ treffen sie einen Kollegen. „Wie geht’s?“, fragt Martyna Szubert den jungen Mann auf Polnisch. „Wie soll es mir gehen“, antwortet er und hebt die Schultern. „850 Euro verdient er in vier Wochen“, klärt Justyna Truszkowska auf, Martynas Freundin und Exkollegin. „Wehren will er sich nicht. Noch nicht. Er hat Angst, dass er dann gar kein Geld kriegt.“

Martina Szubert und Justyna Truszkowska haben diese Angst nicht. Nicht mehr. Im November haben sie sich aufgemacht, um am Alex Geld zu verdienen. Justyna Truszkowska ist 24 Jahre alt und arbeitslos. Vor drei Jahren ist ihre Mutter gestorben, zum Vater gibt es keinen Kontakt. Mit ihrem Bruder lebt sie in einer kleinen Wohnung in Wysokie Mazowieckie, einer Kleinstadt mit 9.000 Einwohnern in Ostpolen, die weißrussische Grenze ist nicht weit. Die vier anderen Geschwister sind über die Welt verstreut, sagt sie. Arbeitsmigranten.

Martyna Szubert ist 23. Auch sie lebt in Wysokie Mazowieckie, studiert Soziologie. Ihre Eltern sind geschieden, der Vater zahlt keinen Unterhalt. „Mit dem Geld aus Berlin muss ich meine Mutter unterstützen“, sagt sie. Es klingt nicht wie eine Entschuldigung. Es ist eine Feststellung.

Nun fühlen sie sich geprellt. Truszkowska hatte einen Arbeitsunfall. Szubert kündigte. Einen Teil des Lohns hat Jens Schmidt, der Inhaber der „Weihnachtsbäckerei“, zurückbehalten. Einen Arbeitsvertrag haben sie nicht bekommen.

„50 Jahre auf dem Berliner Weihnachtsmarkt“ wirbt Schmidt, der gebürtige Berliner, der in Waldfeucht an der holländischen Grenze lebt. Hier steht jemand für Tradition, soll die Botschaft lauten. Die Botschaft, die bei Martina Szubert und Justyna Truszkowska ankommt, ist eine andere: Für sie vertritt Schmidt eine Branche, die die einen Geschäftsmodell nennen, die anderen Ausbeutung.

ADVENT Als Justyna Truszkowska und Martyna Szubert in Berlin ankommen, wissen sie noch nicht, was ihnen auf dem Weihnachtsmarkt blüht

Es ist Mittwoch, der 14. November 2012. Justyna Truszkowska und Martyna Szubert sind müde. 673 Kilometer beträgt die Entfernung von Wysokie Mazowieckie, ganz im Osten Polens, zum Berliner Alexanderplatz. Die Fahrt mit dem Zug hat zwölf Stunden gedauert. Unterwegs haben sie von Jens Schmidt erfahren, wo sie für die Dauer des Jobs wohnen werden – in einem Mietshaus in der Melchiorstraße. Dort hat Schmidt für seine Polen ein paar Wohnungen gemietet.

Justyna Truszkowska kennt den 38 Jahre alten Schausteller, dessen Vater schon im Plänterwald Glühwein verkaufte. Viermal hat sie für Schmidt gearbeitet. Per SMS war der Deal für den Weihnachtsmarkt diesmal perfekt gemacht worden. 1.600 Euro sollte sie für sechs Wochen Arbeit bekommen.

Ihrer Freundin bot Schmidt 200 Euro weniger – ebenfalls per SMS. 1.400 Euro in sieben Wochen macht 200 Euro pro Woche. Das ist immer noch mehr, als Martyna Szubert in Wysokie Mazowieckie oder in Białystok, der nahen Großstadt, verdienen kann. „Bei uns gibt es 300 Euro im Monat“, sagt Martyna Szubert, die in diesem Jahr zum ersten Mal bei „Schmidts Weihnachtsbäckerei“ arbeitete. „1.400 Euro waren für mich ein Argument, im November und Dezember nach Berlin zu fahren.“

Sylwia Timm sieht das mit den Löhnen etwas anders. In ihrer Beratungsstelle „Faire Mobilität“ des DGB am Wittenbergplatz tippt sie die Zahlen in ihren Taschenrechner. Sie kommt auf einen Tageslohn von knapp 30 Euro für Martyna Schubert und von 33,33 Euro für Justyna Truszkowska. Bei einer Arbeitszeit von täglich zwölf Stunden bedeutet das einen Stundenlohn von 2,42 Euro oder 2,78 Euro. „Das ist Ausbeutung“, sagt Sylwia Timm, die selbst aus Polen stammt. Aber es ist legal.

„Befristete Minijobs“ heißt das Geschäftsmodell. Für Jens Schmidt ist es eine Gewinngarantie. Bis zu 50 Tage im Jahr dürfen Arbeitnehmer steuerfrei arbeiten. Also kommen Rumänen im Frühjahr als Spargelstecher und Polinnen wie Justyna und Martyna im Winter auf den Weihnachtsmarkt. Eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit gibt es nicht. Die Lohngrenze nach oben ist offen. Nach unten allerdings auch. „Die einzige Grenze“, sagt Sylwia Timm, „ist die Sittenwidrigkeit.“ Die aber wird von den Gerichten von Fall zu Fall festgelegt.

Diese schlechte Botschaft musste die 39-Jährige Juristin auch den beiden Polinnen beibringen. Am 11. Dezember, knapp vier Wochen nach ihrer Ankunft am Alexanderplatz, haben Justyna Truszkowska und Martyna Szubert die Beratungsstelle von Sylwia Timm in der Keithstraße aufgesucht. Justynas Bruder hatte der Schwester den Tipp gegeben: „Dort sprechen sie Polnisch und helfen dir.“

Und zu helfen gab es viel. Auch wenn der Hungerlohn nicht strafbar ist – das mit dem Einbehalten des Lohnes ist nicht legal. Justyna Truszkowska erlitt am 1. Dezember einen Arbeitsunfall – und sollte ohne den vereinbarten Lohn nach Polen zurückkehren. Martyna Szubert wollte nicht mehr länger die Unterhosen von Jens Schmidt waschen – und hatte gekündigt. Auch den ihr zustehenden Lohn, sagt sie, habe Schmidt zurückbehalten.

Die Töchter des Chefs

„Kommen Sie“, sagt Martyna Szubert. Anders als am Alexanderplatz ist der „Winterzauber“ an der Alexa um zwölf Uhr noch nicht geöffnet. Über dem Rummel mit seiner Achterbahn liegt gespenstische Stille. Etwas weiter dreht ein Wachmann seine Runde. Er hat Szubert und Truszkowska erkannt, lässt sie passieren. Plötzlich schlüpft Martyna Szubert zwischen zwei Buden hindurch, über Kabelstränge und Schneematsch geht es auf den Innenraum zwischen dem Budenzauber.

„Hier ist das Büro von Schmidt, und hier ist die Wäscherei.“ Szubert zeigt auf einen weißen Container. „Hier habe ich die Privatwäsche von Schmidt und seinen drei Töchtern waschen müssen. Als ich mich beschwert habe, hat die 17-jährige Tochter gesagt, ich solle machen, was der Chef sagt.“ Szubert antwortete, sie wolle mit dem Chef sprechen. „Da hat die Tochter gesagt: Ich bin der Chef, du tust, was ich dir sage.“

Martyna Szubert weiß, dass sie Schmidt deswegen nicht belangen kann. Die Entwürdigung hatte sie aber satt.

Am Tag nach ihrer Kündigung, sagt sie, drückte ihr Jens Schmidt einen Zettel in die Hand. Auf dem stand: „200 Euro Hotel, 100 Euro Papiere, 110 Euro AOK.“ Mit 410 Euro stand Martyna Szubert bei Jens Schmidt plötzlich im Soll. Auch ihr Haben war auf den Zettel gekritzelt: „28,33 pro Tag. 22 Tage, 623 Euro.“ Macht abzüglich der 410 Euro 213 Euro Lohn für drei Wochen Arbeit. „Dafür hätte ich auch in Polen bleiben können.“

250 Euro Abschlag habe Schmidt ihr schließlich in die Hand gedrückt, sagt Martyna Szubert und grüßt eine ehemalige Kollegin. „Den Rest hat er verweigert. Er hat gesagt, dass er erst mit seinem Steuerberater sprechen will.“

Erst später stellte sich heraus, dass Schmidt die beiden Polinnen zu diesem Zeitpunkt gar nicht bei der AOK angemeldet hatte. Dass eine Vorarbeiterin Schmidts, auch eine Polin, für jeden der 30 Arbeitnehmer eine Provision von 100 Euro verlangte. Auch dass sie für die Unterkunft zahlen soll, hat Szubert erst erfahren, als ihr Schmidt den Zettel in die Hand drückte. Vereinbart waren freie Kost und Logis.

„Irgendwann war das Fass voll“, sagt Martyna Szubert und schaut noch einmal auf den weißen Container, in dem die Waschmaschinen wummern. „Ich wollte nicht wie die meisten mit der Faust in der Tasche zurück nach Polen. Ich wollte Gerechtigkeit.“

Faule Deutsche, gute Polen

Jens Schmidt wartet vor dem Alexa, am Glühweinstand. „Zwanzig Jahre mache ich den Job“, hatte er am Telefon betont, „aber noch nie hat sich jemand beschwert.“ Damit das nicht in Zweifel gezogen wird, hat der 38-Jährige seinen Anwalt mitgebracht. „Das ist ein Rachefeldzug dieser beiden Polinnen und der Gewerkschaft“, sagt Schmidt. Sein Anwalt nickt. Der Ausbeuter als Opfer.

Jens Schmidt ist, so sieht er sich selbst, ein „mobiler Gastronom“. Auf ihrer Internetseite werben er und seine Frau Angelique Schmidt-Schäfer mit den Worten: „Wir begrüßen unsere Gäste herzlichst in einer Welt voller Verführung, Verlockung, Gaumenfreude und Genuss.“ Offenbar ist Schmidt gut im Geschäft. 2012 stehen seine Hütten außer am Alexanderplatz bei „Rhein in Flammen“ in Bonn sowie in den Niederlanden in Eindhoven oder Tilburg.

Dass er hauptsächlich mit Polinnen und Polen arbeitet, erklärt Schmidt mit der Faulheit der Deutschen. „Wenn ich zehn Leute zum Vorstellungsgespräch bestelle, kommen vier, bei Arbeitsbeginn sind es dann noch zwei.“ Sein Anwalt ergänzt: „Die meisten wollen doch gar nicht arbeiten. Wer Arbeit will, der findet auch eine.“

Da sind die Polen anders. Deshalb arbeitet Schmidt gern mit ihnen, auch wenn sie als EU-Arbeitnehmer die gleichen Rechte haben wie die Deutschen. Hauptsache, sie sehen es nicht so eng mit dem Lohn. Dankbar sollen sie sein, findet Jens Schmidt. Für die Undankbaren wie Truszkowska und Szubert ist der Anwalt zuständig. Sylwia Timm, der DGB-Beraterin, hat er vorsorglich angekündigt, sie persönlich für eventuelle Einbußen verantwortlich zu machen.

Jens Schmidt ist sich keiner Schuld bewusst. Dass er den Lohn immer erst am Schluss auszahlt, gehört zum Geschäftsmodell – „Saisonkräfte im Schaustellergewerbe“ heißt es. Den Zettel, den er Martyna Szubert in die Hand gedrückt haben soll, habe er nicht unterschrieben. Er kenne ihn auch nicht. „Warum soll ich ein Hotel in Rechnung stellen, wenn Kost und Logis umsonst sind?“, fragt er und wird wütend. „Ausgerechnet am Freitag hat Frau Szubert gekündigt. Am Wochenende ist Hochbetrieb. Da krieg ich so schnell keinen Ersatz.“ Auch dass Szubert die 250 Euro Abschlag nicht quittieren wollte, ärgert ihn. „Jetzt kann sie behaupten, gar kein Geld bekommen zu haben.“ Und der Rest? „Frau Szubert soll ihre Ansprüche geltend machen, wir werden das prüfen“, sagt der Anwalt.

Schmidt rudert zurück

Zum Gesprächsbeginn hat Jens Schmidt sein iPhone auf das Holzfass am Glühweinstand gelegt. Aufnahmemodus. Man weiß nie. Vielleicht ist ihm mit dem Zettel ein Fehler unterlaufen. Einen weiteren Fehler will er nicht begehen. Nicht nur der Zettel könnte ihm unangenehm werden, sondern auch die Sache mit Justyna Truszkowska und ihrem Arbeitsunfall.

Es war am 1. Dezember, einem Samstag. Justyna Truszkowska bediente die Maschine, mit der der Teig für Schmidts Quarkbällchen hergestellt wird – fünf Stück für drei Euro. Der Finger kam in die Maschine, blutete. Schmidt ließ Justyna Truszkowska ins Krankenhaus bringen. So weit decken sich die Erzählungen von Jens Schmidt, dem Arbeitgeber, und Justyna Truszkowska, der Arbeitnehmerin.

Über den Tag danach gehen sie auseinander. „Schmidt sagte, ich soll zurück nach Polen“, behauptet Truszkowska. „Er habe keine Arbeit mehr für mich.“ Schmidt sagt, er habe zunächst seinen Steuerberater fragen wollen. Jenen Steuerberater, der auch die Arbeitsverträge ausstellen sollte. Angeblich. Mehr als zwei Wochen waren zu dem Zeitpunkt vergangen, und Truszkowska und Szubert warteten noch immer auf ihre Verträge. „Das war doch klar, dass der kein Geld mehr überweist“, sagt Truszkowska. In der Beratungsstelle hatte ihr Sylwia Timm erklärt, dass sie ein Recht auf Lohnfortzahlung habe. Deswegen will sie Schmidt nun auf die Auszahlung der vereinbarten Summe von 1.600 Euro verklagen.

Jens Schmidt ist nervös. Räumt ein, dass Justyna Truszkowskas Sehnenriss ein Arbeitsunfall war. Dass die Berufsgenossenschaft dafür aufkommen müsse und nicht Truszkowskas Krankenversicherung in Polen. Dass sie ein Recht auf Lohnfortzahlung habe. Jens Schmidt rudert zum ersten Mal zurück. Sein Anwalt sagt: „Frau Truszkowska muss ihre Ansprüche geltend machen.“

Inzwischen sind Justyna Truszkowska und Martyna Szubert wieder in Wysokie Mazowieckie. Justynas Bruder hat die beiden nach Ostpolen gebracht. Auch er war auf dem Rückweg. Hat in Holland gearbeitet. Dort sind die Löhne höher.

Darüber, dass Schmidt sich als Opfer eines Rachefeldzugs sieht, können sie nur lachen. Justyna Truszkowska und Martyna Szubert fühlen sich im Recht. Und sie wollen dieses Recht durchsetzen. Es geht um den ausstehenden Lohn, um die Unterstützung für ihre Familien.

Jens Schmidt sucht den Blick seines Rechtsbeistands. Auch er fühlt sich im Recht. Wann er die Arbeitsverträge von seinem Steuerberater bekommt, kann er nicht sagen. Truszkowska und Szubert können sie nicht mehr unterschreiben. In einer Woche schließt der Weihnachtsmarkt. Jens Schmidt hofft wohl, dass dann alles vorbei ist.

Vielleicht fängt es aber auch erst an.