: Die Mücke weiß alles
BRASILIEN In ihrem Romandebüt „Mal Aria“ erzählt Carmen Stephan aus ungewöhnlicher Perspektive vom Sterben in der Fremde
VON SOPHIE JUNG
Die Anopheles ist eine kleine graue Stechmücke mit gefleckten Flügeln. In den sumpfigen Gebieten des brasilianischen Marajo-Archipels schwirrt sie harmlos umher. Nur manchmal benötigt das Weibchen Protein, Protein aus dem Blut eines Menschen. Als eine von ihnen die pochende Ader an Carmens Hals sieht, sticht sie zu. „Das Wesen landet lautlos. Sein Hinterteil streckt es steil nach oben. Der gefährlichste Augenblick unseres Lebens.“ Mit jedem Schluck Blut, der durch den Rüssel der Anopheles dringt, strömt auch etwas in Carmens Kreislauf: ein Parasit, der sich in der Bauchdecke der Anopheles eingenistet hat.
„Weil die Geißeln, diese Dämonen, meinen Hunger für ihre Zwecke missbrauchen“, sagt die Mücke, dringt die Malaria in den Körper der Frau ein. Carmen, die deutsche Architektin, erkrankt. Die Mücke aber ist durch das Blut mit ihr verbunden. Sie folgt ihrem Opfer von Bélém nach Rio de Janeiro. Immer tiefer blickt sie in Carmens Gedanken. Immer mehr spürt sie, wie der Parasit den Körper der jungen Frau auffrisst.
„Mal Aria“ ist das Romandebüt von Carmen Stephan. Die deutsche Autorin lebt in Brasilien. In ihren bisher veröffentlichten Kurzgeschichten schreibt sie über Brasilien. Ihre Erzählungen füllt sie mit Bildern des Landes, auf denen sich Großstadt und Urwald, Moderne und die Mythologie des Amazonas zusammentun. Ebenso wie die Autorin ist auch die Hauptfigur eine Fremde in Brasilien. Beide tragen den gleichen Vornamen. Doch lässt Carmen Stephan ihre fiktive Carmen nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Sie wird in einem brasilianischen Krankenzimmer ihr Ende finden.
„Mal Aria“ handelt vom Sterben in der Fremde. „Mal Aria“ handelt auch vom Versagen der Ärzte. Sie, die sich „mit der Erfindung des Stethoskops von den Patienten entfremdet haben“ und von „Pfad A, B, C oder D“ den falschen Behandlungsweg wählten, erkennen bis zum Schluss nicht, dass die junge Deutsche durch einen Stich der Anopheles erkrankte.
Schließlich ist es die Mücke, die alles weiß. Sie schaut vom Ventilator auf das Sterbebett. Sie ist das Subjekt und die Ich-Erzählerin, empathisch, fragil und eingefangen in die Handlung. Sie ist auch die jenseitige Stimme aus dem Off, weise, allwissend und ermahnend. Vereinzelt dringt sie in die Handlung ein und versucht, den Fortlauf der Geschichte zu lenken. Vergeblich bemüht sie sich, die Ärzte und ratlosen Freunde von Carmen aufzuklären. Sehr geschickt legt die Autorin diese vielschichtige Erzählerperspektive an. Ich-Erzähler, Protagonist und Beobachter vermengen sich in einer kleinen Mückenkreatur.
Zuweilen kann man der menschlichen Artung des Wesens etwas überdrüssig werden. Etwa dann, wenn die Mücke versucht, mit Blütenstaub das Wort „Malaria“ zu schreiben, oder wenn ihr Gefühl der Reue zu häufig die Erzählung durchzieht. An anderer Stelle fällt das Bild vom kleinen Mückenleib, der „ins Schlingern gerät“, und dessen „sechs Beine zittern“, wenn „Schluck um Schluck der schwere Saft aus ihr herausgesaugt wird“, wunderschön aus.
„Erinnert euch“, mahnt das Insekt schon zu Beginn, „der Mensch wurde am letzten Tag erschaffen. An manchen Orten war der Himmel schon so voller Mücken, dass kein Licht mehr durchdrang.“ Mit dem Alter ihrer Gattung besitzt die Kreatur auch ihr Wissen. Und die Mücke weiß um jenen Parasiten, der ihrem Namen „Anopheles“, zu Deutsch „Nichtsnutz“, einen zynischen Beiklang gibt. Entlang des Todesweges ihres Opfers blickt sie zurück auf die Geschichte, die Mensch, Mücke und Malaria miteinander verbindet. Während die Bakterien in Carmens Organen ihre Nester setzen, berichtet sie von Kannibalen, die einst die Leber von Malariatoten ausspeien mussten, so bitter war das süße Fleisch von den darin wimmelnden Plasmoden geworden. Und während die Ärzte mit fortschreitender Ahnungslosigkeit fehlbehandeln, erzählt die Kreatur von winzigen Sporenwesen, die der Mediziner Alphonse Laveran 1882 zufällig in dem geronnenen Blut eines Patienten fand. Die Mücke beobachtet, wie der Tod immer weiter im Körper Carmens vorrückt, und zugleich erzählt sie uns, wie sich die Wissenschaft zusehends an die Entdeckung der Malaria herantastete. In diesem Paradox schließt der Roman.
Endlichkeit und Fortschritt? Der Einzelne und die Menschheit? Große Fragen legt Carmen Stephan vor die Kulisse eines brasilianischen Krankenzimmers und in die Gedanken einer kleinen Mücke. Intelligent und faszinierend geschrieben, erhielt die Autorin für „Mal Aria“ 2012 den Jürgen-Ponto-Preis zu Recht .
■ Carmen Stephan: „Mal Aria“. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2012, 208 Seiten, 18,99 Euro