: Immerhin günstig
NEUKÖLLN REVISITED Die Gegend rund um die Silbersteinstraße war Mitte der Achtziger recht hässlich und abgerockt. Und ist das auch heute noch. Kein Grund also für irgendwelche Sentimentalitäten bei der Begehung einer Ex-Heimat
VON ANDREAS BECKER
Freunde einzuladen war nicht gerade einfach damals. Wo wohnst du, in der Silbersteinstraße? Da, wo die Frau auf dem Spielplatz vergewaltigt und umgebracht wurde? Damals, Mitte der achtziger Jahre.
Als ich 1985 in das abgelegene Neuköllner Hausprojekt einer Freundin zog, die vorher aus einem besetzten Haus in der Charlottenburger Danckelmannstraße rausgeräumt worden war, gab es hier weder einen S-Bahn-Ring – auf der Trasse wollte der Senat die Autobahn verlängern – noch eine nahe gelegene U-Bahn. Die U 8 führte nur bis Leinestraße. Immerhin günstig, um ohne Umsteigen durch DDR-Geisterbahnhöfe wie Alex oder Rosenthaler Platz zur taz zu fahren, die in diesen Tagen noch im Wedding residierte.
Das Projekt Silberstein war kein besetztes Haus, sondern damals schon billig, weil schrottreif, gekauft worden. Das erzählte man lieber nicht gleich, wenn man jemand kennen lernen wollte in Kreuzberg. Wohin man schon musste, um überhaupt jemanden kennen zu lernen.
Wir hatten einen riesigen, runden Tisch, an dem gut 16 Leute gleichzeitig essen konnten. Jeden Sonntag war Plenum. Manchmal schwänzte man, um nicht kochen zu müssen, und es mussten sich für jeden Wochentag zwei Köche finden. Ein ziemlich aufwendiger Job, der rund fünf Stunden dauerte. Da kaum einer geregelt arbeitete, ging das aber.
Bis zum nächsten okayen Laden war es weit, man brauchte ein Auto. Mit dem kurvte ich gern auf das Parkdeck vom Reichelt neben dem U-Bahnhof Neukölln. Der Mangel an Lebensmittelläden ist heute in ein Überangebot umgeschlagen. Ein Aldi, ein Netto (mit Hundelogo), ein Lidl und ein Riesenkaisers. Sie wären heute fast zu Fuß erreichbar.
Schon damals galt die Gegend um die Silbersteinstraße als abgelegen, dreckig und finster, sozial runter sowieso. Linke Soziologen sagten über unsern Kiez: „bevölkert von verelendetem Proletariat“. Bis man mal in Kreuzberg war, musste man am langen Zaun des Flughafens Tempelhof entlangradeln. Als ich noch nicht in Berlin wohnte, Anfang der Achtziger, fand ich den zugekackten Sonntagsspazierweg neben dem Columbiabad so öde und schrecklich, dass ich mir schwor, nie nach Westberlin zu ziehen. Später war dies mein fast täglicher Weg. Tja.
Geh zu Inge, schwoofen
Mehr als zwei Szenekneipen gab es in ganz Neukölln bis in die Neunziger nicht. Und noch heute ist die Meute der jungen Touris und Neu-Neuköllner nicht nennenswert über den S-Bahn-Ring rübergeschwappt. Dabei gäb’s hier so schön viel zu gentrifizieren.
Zum Beispiel die Eckneipe zur Hermannstraße. Die hat schon einen Zettel im Schaufenster hängen: „Komplettes Mobiliar mit Tresen zu verkaufen“. Als ich noch überlege, reinzugehen und nach Inge zu fragen, der damaligen und wahrscheinlich längst toten Wirtin, sehe ich durchs Fenster einen Nazi-Arschlochtypen mit Thor-Steinar-Sweater am Automaten daddeln. Damals war das Schaufenster mit Girlanden präpariert und ein selbstgemaltes Plakat verkündete Inges Samstags-Botschaft: „Wat willste Platten koofen – geh doch zu Inge, schwoofen!“ An den anderen Tagen spielten hier Handwerker um Geld Billard und die Zwergin Inge zockte sie sogar ab dabei.
Wir als Hippiefreaks waren ihr ebenso willkommen als Kindl-Trinker wie jeder andere. Nur mit dem Stuhl kippeln durfte man niemals. Dann kam Inge, die hinterm Tresen eine Art Wohnung hatte, in ihren roten Puschen zum Tisch und schimpfte.
Ich geh nicht rein, lieber laufe ich an einer ranzigen Pension („Zimmer ab 20 Euro“) und der Kneipe „Zu den 3 Stufen“ vorbei Richtung „Las Vegas 2“. An der Haltestelle gibt es plötzlich doch einen halbwegs hippen Coffeeshop mit Laptop-Leuten im Schaufenster.
Es geht weiter die Hermann runter, zu Pizza Cheezy. Daneben muss mal das Globus-Kino (heute Tanzbar Galaxy) gewesen sein, dessen Buchstabenschatten weiterhin auf der Fassade lesbar sind – das Kino war in den Achtzigern schon dicht, aber man sah in dem damaligen Billigladen über den Regalen noch das Loch in der Wand vom Projektor.
Geht man die Silberstein weiter runter Richtung „Kalle Max“, wie wir früher zur Karl-Marx-Straße sagten, wird es immer noch trister. Wer hier hinzieht, hat verschissen. Oder er findet es cool oder linguistisch interessant, dass neben der Dachdeckerei Gnädig direkt der Partyservice Deniz und daneben das islamische Bestattungshaus ist. Nach dem Steinar-Typen dachte ich auf meinem Weg, dass die schwarz gekleideten Typen auf dem Gehweg Rocker wären – weil direkt neben der Einfahrt für die Leichenwagen ein Motorradladen ist.
Am anderen Ende der Straße, ein Stück vor dem Aldi, war früher eine Tankstelle mit einem Getränke-Hoffmann drin. Jetzt gibt es einen kleinen Kramladen mit dem schönen Namen „Silber Market“. So blöd die verdammte Autobahn im Tunnel ist – die Silberstein ist ruhiger geworden.
Die „schönste“ und für mich persönlich bedeutendste Ecke liegt an der Oberlandstraße. Hinterm „Apartmenthaus“ (früher Haus Bremen, wie zufällig meine Heimatstadt) sieht man die verrottenden Trakte des ehemaligen Krankenhauses Neukölln. Friedhöfe folgen und die neuen Gebäude eines großen Alten- und Pflegeheimkomplexes, für diese Gegend viel zu fröhlich gelb-orange angemalt. Die Pflegebranche umgibt ihre Sterbeeinrichtungen ja gern mit niedlichen Namen: Haus Sonnenschein, Haus Seerose, und daneben wartet auch schon unter einer aufs Haus gepinselten Sonnenblume das Freizeit-Team.
Gern würde ich hier mit den Rentnern bei Bohnenkaffee scrabbeln. Aber ich muss weiter zu den Ruinen des Krankenhauses. Über der alten Haupteinfahrt stehen die Worte: „Erbaut während des Großen Krieges 1914 bis 1917“. Schade, dass es nicht auch noch „vaterländisch“ heißt.
Mehrere Reliefs bilden Krankenschwestern ab, die gerade ein Baby wickeln oder ein Buch aufschlagen. Hier war eine große Geburtsstation, und das Merkwürdige ist: Nachdem ich längst aus der Silberstein ausgezogen war, fand ich Unterlagen, die besagten, dass mein eigener Vater genau hier in Neukölln geboren worden sei.
Beim Blick auf das teilweise ausgebrannte Gebäude – warum investiert hier keiner in Wohnungsbau, bevor die Gebäude einkrachen? – kommt mir dieser „Zufall“ meiner Wohngegendwahl, ohne an Esoquatsch zu glauben, noch heute absolut unwahrscheinlich vor. Hatte mein irres Unbewusstes mich in die elende Silbersteingegend zu meinen Wurzeln führen wollen?
Kurz bevor die Mauer fiel, zog ich aus dem Projekt Silberstein aus, an die Sonnenallee, in eine minikleine Einzimmerwohnung. Dann fuhren die Ossis mit den Sonderbussen vom Grenzübergang zum Karstadt Hermannplatz.