: Die Wirklichkeit allen Daseins
Vergehendes Leben: Im Rahmen der Filmreihe „Wessen Terror?“ zeigt das HKW zwei herausragende Filme des philippinischen Regisseurs Lav Diaz
Ein Zentralmassiv überragt alles, was „Wessen Terror?“, das Südostasien-Filmprogramm im Haus der Kulturen der Welt, an Wahrheit und Schönheit zu bieten hat. Dieses Massiv besteht aus zwei Filmen des philippinischen Regisseurs Lav Diaz, dem über fünfstündigen „Batang West Side“ (2001) und dem fast elfstündigen „Evolution of a Filipino Family“ (2004). Ersterer erzählt von der Arbeit eines aus Manila stammenden Polizisten in den USA. Der Mann will den gewaltsamen Tod eines philippinischen Jungen aufklären. Anhand seiner Geschichte entfaltet sich ein Panorama des Lebens seiner Landsleute in Amerika. Diaz untersucht unter anderem, wie etablierte Geschlechterklischees im Exil zerschellen; „Batang West Side“ wird dabei zu einer schmerzvollen Meditation über eine Maskulinität, die sich ihrer suizidalen Tendenzen nicht erwehren kann.
„Evolution of a Filipino Family“ verzeichnet die Wege zweier Familien über 16 Jahre philippinischer Geschichte hinweg. Der Schwarzweißfilm setzt 1971 ein, ein Jahr bevor der Präsident Ferdinand Marcos das Kriegsrecht verhängte, und endet 1987, ein Jahr nach der Regierungsübernahme von Corazón Aquino. Diese epische Anlage findet ihre Entsprechung in der vielschichtigen, ebenso metakritischen wie selbstreflexiven Form, die Diaz etabliert.
Der Regisseur arbeitet mit Handlungssträngen, die einander komplementieren und kommentieren. Sie sind nicht notwendigerweise chronologisch angeordnet. In „Batang West Side“ gibt es ein dem Krimiplot gemäßes, ermittelndes Vorwärts und ein erinnerndes Rückwärts. In „Evolution of a Filipino Family“ arbeitet Diaz mit flash forwards und flash backwards, deren zeitliche Positionen sich oft erst nach Stunden erschließen; zu den verschiedenen Zeit- kommen verschiedene Realitätsebenen hinzu – so tritt beispielsweise reales neben fiktives Dokumentarmaterial, und Traumgeschehen mischt sich in den Film.
„Batang West Side“ und „Evolution of a Filipino Family“ sind zwei Teile eines Triptychons, das mit einem Film namens „Heremias“ vollendet werden soll. Gedreht hat Diaz schon, über den Fertigungsstand gibt es widersprüchliche Aussagen: Laut Diaz sind gerade mal 30 bis 40 Prozent des nötigen Materials im Kasten, das Budget jedoch ist aufgebraucht, und die zweieinhalb- bis dreistündige Fassung, die im Augenblick existiert, ist nur ein erster Rohschnitt.
In diesem Triptychon bildet „Evolution of a Filipino Family“ die Mitteltafel: Verdichtet wird die Erfahrung des Leidens an der Geschichte, das sich zunächst am Regime von Marcos entzündet und sich später aus der Enttäuschung über Corazón Aquino speist. „Batang West Side“ bildet die Seitentafel: Beobachtet wird das Schicksal der vielen Filipinos, die die Zustände auf dem Archipel ins Exil getrieben haben. Es ist ein Exil nicht nur von der Heimat, sondern auch vom Innersten, vom Selbst. „Heremias“, die dritte Tafel, soll sich mit der Erlösung beschäftigen, eine Flucht vor der Realität beschreiben, die in die Wirklichkeit der religiösen Ekstase führt.
Diaz hat eine Vorliebe für Plansequenzen; Szenen werden extrem lange gehalten, oft geschieht fast nichts darin. Die Sensation ist die Erfahrung von Zeit selbst, ganz konkret, physisch, nicht weil einem der Arsch wehtut, sondern weil man seine Körperlichkeit, seine eigene Gegenwart als konkret vergehendes Leben spürt. Das ist nicht schlimm, sondern die Wirklichkeit allen Daseins. Die Frage, die sich dabei stellt, die sich so viele Protagonisten von Diaz stellen müssen, ist: Wird dieses Leben sinnvoll gewesen sein? Solange es Filme wie die von Lav Diaz gibt, kann die Antwort nur „Ja!“ lauten.
OLAF MÖLLER
„Evolution of a Filipino Family“, Sonnabend 18 Uhr bis Sonntag 6 Uhr. „Batang West Side“, am 12.11., 18 Uhr. Im HKW, John-Foster-Dulles-Allee 10
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