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Archiv-Artikel

„Wir teilen viel, lachen viel“

KÄMPFER Vor zwei Jahren wurde in Tunesien der Diktator Ben Ali gestürzt – auch dank des oppositionellen Ehepaars Hamma Hammami und Radhia Nasraoui. Ein Gespräch über gewachsene Verbundenheit und neue Freiheiten

Hamma Hammami

■ Person: 1952 geboren im tunesischen El Aroussal, ist Generalsekretär der bis zur Revolution verbotenen kommunistischen Partei der tunesischen Arbeiter (Parti communiste des ouvriers tunisiens, POCT,) 2012 umbenannt in Tunesische Arbeiterpartei (Parti des travailleurs tunisiennes, PTT).

■ Opposition: Er ist Pressesprecher des kürzlich gegründeten Parteienbündnisses Front Populaire und ehemaliger Herausgeber der verbotenen Zeitung El Badil (Die Alternative).

■ Repression: Während des Studiums der arabischen Literatur wurde er unter Bourguiba 1972 erstmals inhaftiert und gefoltert wegen Teilnahme an studentischen Protesten. Er wurde zu acht Jahren Haft verurteilt und auf Intervention von Amnesty International sechs Jahre später freigelassen. Auch unter Ben Alis Diktatur wurde er verfolgt, gefangen genommen und gefoltert. Seine Befreiung erlebte er am Nachmittag des 14. Januars – in den letzten Stunden des Ben-Ali-Regimes.

GESPRÄCH EDITH KRESTA UND RENATE FISSELER-SKANDRANI

sonntaz: Herr Hammami, Frau Nasraoui, Sie beide gelten als Stimme gegen die Folter in Tunesien. Sie haben Freiheit und Demokratie eingefordert, sich der Diktatur entschlossen widersetzt. Wie fühlt sich der Arabische Frühling nun für Sie an?

Radhia Nasraoui: Früher hatten wir keinerlei politische Freiheit. Die Leute hatten Angst mich zu kontaktieren. Jetzt kommen sehr viele Leute zu mir. Von morgens bis abends werde ich angerufen. Die Leute wollen, dass ich ihnen helfe, sie vertrete. Leute aus dem Landesinnern, aus Kasserine, die bei der Revolution verletzt wurden und jetzt als Märtyrer anerkannt werden wollen. Jetzt hat niemand mehr Angst, sein Recht einzuklagen. Nun haben wir als Menschenrechtsanwälte ein Büro, einen Ort. Früher waren wir immer halb illegal. Jetzt sind wir dauernd beschäftigt, organisieren Seminare, Zusammenkünfte. Das ist völlig neu für uns. Wir können uns öffentlich für unsere Rechte einsetzen. Wir haben das Recht Menschenrechtsorganisationen zu gründen, es gibt das Recht, eine Partei zu gründen, sich zu treffen. Es war uns früher teilweise sogar verboten, die Hauptstadt zu verlassen.

Hamma Hammami: Früher konnten wir uns zu zweit oder in einer größeren Gruppe nicht einmal in einem Café treffen, weil irgendein Polizist dem Besitzer drohte, das Café werde geschlossen. Das galt nicht nur für uns, sondern für alle, die politisch aktiv waren. All das, die Überwachung, Bedrohung, Repression ist endlich vorbei. Es ist diese Freiheit, die wir nach der Revolution ganz konkret und alltäglich gewonnen haben.

Gibt es Momente, wo Sie die neue Freiheit auch ganz persönlich, privat genießen können?

Hamma Hammami: Vor dem 14. Januar 2011 waren wir nicht viel zusammen. Ich war zehn Jahr im Gefängnis unter Bourguiba und Ben Ali, zehn Jahre im Untergrund. Und wenn wir zusammen waren, wurden wir ständig überwacht, die Leute hatten Angst uns anzusprechen. Jetzt leben wir mit unseren drei Töchtern zusammen, das ist ein immenser Unterschied. Wir haben nun ein Familienleben. Das ist ein großes Glück, ein völlig anderes Lebensgefühl.

Und Sie haben viel zu tun?

Hamma Hammami: Ja, Radhia kämpft weiter gegen die Folter, und ich bin Generalsekretär der Arbeiterpartei und Pressesprecher des Parteienbündnisses Front Populaire. Für uns bedeutet die Revolution auch, dass wir nicht mehr zur Ruhe kommen.

Radhia Nasraoui: Ja, denn man kann ja nicht wirklich vom Arabischen Frühling sprechen, weil es Tote und Verletzte gab. Aber es ist eine Revolution der Würde, weil die Leute hier für ihre Würde, ihre Freiheit gekämpft haben. Doch die Ziele der Revolution sind noch lange nicht erfüllt.

Was fehlt?

Hamma Hammami: Die Demokratie bleibt eine Verheißung, wir haben noch immer keine Verfassung. Die Justiz, die Polizei, die Administration wurden noch nicht reformiert. Im sozialen und wirtschaftlichen Bereich hat sich bislang überhaupt nichts verändert. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Arbeiter werden schlecht bezahlt. Es ist immer noch die gleiche Verfasstheit wie zu Zeiten Ben Alis: Eine einheimische und ausländische Minderheit profitiert. Und hinzu kommt, dass die Tunesier von undemokratischen Bewegungen wie den Salafisten bedroht sind.

Das alte Regime versuchte mit allen Mitteln, sie beide an der Ausübung ihres Berufs zu hindern. Polizisten schlugen Sie zusammen, Sie wurden beschattet, Ihre Anwaltskanzlei wurde verwüstet. Hamma Hammami, Sie wurden gefoltert, waren über Jahre eingekerkert. Sie mussten im Untergrund leben. Wie hält ein Paar das aus?

Hamma Hammami: Zuallererst muss man von dem, was man tut, überzeugt sein und solidarisch. Das alte Regime hat sehr oft versucht, uns zu entzweien, hat versucht, uns gegeneinander auszuspielen. Das hat nicht geklappt. Wir glauben an unseren Einsatz für Freiheit, Würde, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Radhia und ich, wir sind nicht nur einfach ein Ehepaar. Wir sind Freunde. Wir teilen viel, reden viel, lachen viel.

Auf Facebook gibt es ein kleines Interview über Ihre erste Begegnung 1981 im Gefängnis, wo Sie, Radhia, als Anwältin Ihrem Nochnichtmann sagen, dass man aufrecht bleiben muss.

Radhia Nasraoui: Ja, ich bin nicht die Art von Frau, die sich über Probleme beklagt, die ein ruhiges Leben um jeden Preis will. Ich kenne viele Frauen, die ihren Partner in solchen Situationen nicht unterstützen, weil sie nicht wie diese denken oder weil sie Angst haben um ihre Familie, ihre Zukunft. Ich finde, dass ein Ehepaar solidarisch sein muss. In dem Moment, wo wir uns für den Kampf gegen die Diktatur entschlossen hatten, war klar, dass wir Schwierigkeiten bekommen werden.

Was treibt Sie persönlich zu diesem jahrzehntelangen Engagement?

Radhia Nasraoui: Mein Vater hat schon gegen die Kolonisation gekämpft. Er stand wegen unerlaubter Versammlungen vor Gericht. Ich wurde Rechtsanwältin, um die Opfer der Unterdrückung zu verteidigen. Es war eine bewusste Wahl. Weil ich genau sah, dass es auch schon in der Zeit von Bourguiba keine freie Meinungsäußerung gab, weder bei den studentischen Vereinigungen noch in der Gewerkschaftsbewegung. Und mir war auch sehr schnell klar, dass Gefangene bei uns schwer gefoltert werden. Dagegen muss man kämpfen.

Hamma Hammami: Für mich gab es ein Schlüsselerlebnis, gegen die Diktatur zu kämpfen: Ich war ungefähr 15 Jahre alt, als ich für meinen Vater in einer Kooperative arbeitete. Er war krank geworden. Da habe ich am eigenen Leib erfahren, was Ausbeutung ist. Wir haben fast einen Monat gearbeitet und nur Geld für drei Tage erhalten. Wir haben in totaler Armut gelebt. Da habe ich gelernt, dass Ausbeutung ein soziales Muster ist und nicht vom Himmel fällt. Ein zweites Erweckungserlebnis hatte ich bei meinem ersten Gefängnisaufenthalt während der Zeit der Studentenunruhen 1972. Ich wurde eingesperrt, weil wir eine demokratische studentische Vertretung forderten, und wurde schwer gefoltert. Da habe ich verstanden, dass die Würde des Einzelnen bei uns gar nichts zählt. Da fing ich an Fragen zu stellen: über Diktatur, Ausbeutung, Repression, und mir wurde klar, dass man für seine Würde kämpfen muss. Seit 40 Jahren engagiere ich mich nun politisch.

Heute stehen Sie beide auf der Politikerskala ganz oben, Sie zählen laut Umfragen zu den beliebtesten Politikern. Sie haben mit einer Reihe von linken Parteien die Front Populaire gegründet, die laut Umfragen inzwischen die dritte politische Kraft in Tunesien ist – hinter dem von Ennahda angeführten Regierungsbündnis und dem von Beji Caid Essibsi angeführten Parteienzusammenschluss Nidaa Tounes. Wofür steht die Front Populaire?

Hamma Hammami: Unser Zusammenschluss ist nicht nur ein Zusammenschluss der Linken, es sind zwei linke Parteien darin, aber auch liberale Parteien, regionale Bewegungen und etliche Unabhängige. Was uns alle eint: Wir wollen die Ziele der Revolution verwirklichen.

Und was heißt das ganz konkret?

Hamma Hammami: Wir wollen unsere nationale Wirtschaft stärken und unabhängiger vom Internationalen Währungsfonds, den Interessen multinationaler Konzerne, aber auch von Europa ausgestalten. Zum Zweiten geht es um den Demokratisierungsprozess in der Gesellschaft: Die Islamisten versuchen uns einen Verfassungsentwurf aufzuzwingen, der nicht demokratisch ist, zumindest versuchen sie ihn religiös zu gestalten. Wir kämpfen für einen republikanischen Verfassungsentwurf. Und drittens wollen wir soziale Gerechtigkeit, denn dafür haben die Tunesier gekämpft. Wir stehen für eine gerechtere Verteilung in der Gesellschaft. Dafür, dass auch die Arbeiter von ihrem Gehalt leben können. Das ist jetzt vielfach noch nicht der Fall. Andere Themen sind Umwelt und Bildung. Wir sind inzwischen die drittstärkste Partei in Tunesien, und wir wachsen. Die regierende islamistische Ennahda hingegen verliert immer mehr an Zustimmung.

Radhia Nasraoui

■ Person: 1953 in Tunis geboren, bekannte Anwältin in politischen Prozessen seit Bourguiba, gilt als Stimme gegen Folter in Tunesien. Langjährige gesellschaftliche Aktivistin gegen die Diktatur und für die Rechte der Frauen.

■ Opposition: 1976 überzeugte Nasraoui das Anwaltsbüro, in dem sie arbeitete, Studenten, die wegen ihrer oppositionellen Haltung zu dem damaligen Präsidenten Bourguiba angeklagt waren, zu verteidigen. Nach einem Generalstreik in Tunesien, der mit blutigen Unruhen einherging und zahlreiche Todesopfer forderte, eröffnete sie 1978 ihre eigene Kanzlei. Sie setzte sich auch für die Rechte der Frauen und Familien von inhaftierten Islamisten ein.

■ Repression: Radhia Nasraoui war 2003 die Gründerin und ist die Vorsitzende der Association de lutte contre la torture en Tunisie, einer Vereinigung gegen Folter in Tunesien. Sie war bis zur Revolution Gewalttätigkeiten durch die Polizei ausgesetzt und trat aus Protest zweimal in den Hungerstreik.

Ennahda behauptet, Ihre Partei stecke hinter den Ausschreitungen in Siliana und in Sidi Bouzid am zweiten Jahrestag der Selbstverbrennung von Bouzizi in Sidi Bouzid, die zum Auslöser der Revolution wurde. Sie wollten den bewaffneten Kampf und die Diktatur des Proletariats? Was sagen Sie dazu?

Hamma Hammami: Wir sind sehr nahe an der Bewegung von unten. Schon zur Zeit Ben Alis hat wurden wir als Aufrührer beschuldigt. Für uns ist das eine Ehre. Aber mit gewaltsamen Ausschreitungen haben und hatten wir nichts zu tun. Wir haben nie Gewalt ausgeübt, im Gegensatz zu den Kadern von Ennahda, die Unruhen zuletzt auf Djerba und in Tataouin schürten. Das sind faschistische Gruppen im Dunstkreis der Salafisten oder Kriminelle. Wir haben einen nationalen Rat gegen die wachsende Gewalt gefordert.

Frau Nasraoui, Sie haben während der Zeit der Diktatur inhaftierte, gefolterte Islamisten verteidigt, Sie sind Vorsitzende der Vereinigung gegen Folter in Tunesien. Sie vertreten heute die Familien der Opfer und die Rechte der in der Revolution Verletzten. Die Familien der Opfer während der Erhebung in Redeyef 2008 protestieren dagegen, dass Ihren Toten die Aufnahme in die gerade erstellte Liste der anerkannten „Märtyrer“ verweigert wird. Warum dauert dieser Prozess so lange?

Radhia Nasraoui: Es ist wenig verständlich, warum der Kampf der Minenarbeiter von Redyef nicht wirklich auf die Liste der Märtyrer kommt. Man hat nicht das Recht ihnen abzusprechen, dass sie Opfer des revolutionären Prozesses sind. Der Aufstand der Minenarbeiter 2008 hat die Revolution eingeleitet. Es ist wahr, dass der Prozess sehr lange dauert. Aber wir haben das in Kauf genommen, damit unabhängige Kommissionen die Fälle untersuchen können – und nicht ein Militärgericht das macht. Die Militärgerichte können damit nicht umgehen, und alle, sowohl die Beschuldigten als auch die Opfer, sind unzufrieden. Es sind skandalöse Zustände.

Wie hat sich die Situation in den tunesischen Gefängnissen seit dem revolutionären Umbruch entwickelt?

Radhia Nasroaui: Die Folter, die schlechte Behandlung werden fortgesetzt.

Wie kann das sein?

Radhia Nasraoui: Es gab keine Reform in den Gefängnissen, die Direktoren, die Wärter sind dieselben. Und es gibt keine Strafverfolgung bei Missbrauch ihrer Macht.

Was sagt Ennahda, deren Mitglieder ja selbst oft im Gefängnis saßen?

Radhia Naraoui: Ich habe den Eindruck, dass sie sich nicht im Geringsten dafür interessieren. Auch nicht für die Übergriffe der Folter in den Polizeistationen. Die Folter gehört bei ihnen zum Geschäft. Und es gibt nicht wirklich einen politischen Willen, diese barbarischen Praktiken zu ändern. Es wäre ein Leichtes, die Folterer zu bestrafen, ihnen rechtlich zu drohen. Aber diese Folterer fühlen sich beschützt von der Justiz und der Politik.

Hamma Hammami: Man hat den Eindruck, dass Ennahda an diesem System nichts verändern will. Sie wollen den Staatsapparat in den Griff bekommen und für ihre Machtinteressen instrumentalisieren. Mehr nicht. Sie lassen alles beim Alten und fügen nur ihre Inkompetenz in allen Bereichen hinzu.

Radhia Nasraoui: Ich glaube auch, dass ihre Ziele nicht weit von denen Ben Alis entfernt sind. Sie benutzen die Folter, um die Leute zu beherrschen, ihnen Angst zu machen.

Was unterscheidet den Umbruchprozess in Tunesien von dem in Ägypten?

Hamma Hammami: Ägypten und Tunesien sind die beiden arabischen Länder, wo die Menschen wirklich für Demokratie auf die Straße gegangen sind, wo der arabische Aufbruch stattgefunden hat. Anders als im Jemen, in Bahrein oder etwa in Libyen, wo es nicht wirklich einen Staat gibt, sondern eine zersplitterte Struktur. Aber in Tunesien ist die Zivilgesellschaft, die Gewerkschaftsbewegung, die politische Opposition viel stärker entwickelt. Das ist eine historische Tatsache. Dadurch ist der demokratische Prozess bei uns viel tiefgreifender als der in Ägypten.

Welche Rolle spielte die islamische Ennahda, die sich heute als legitime Erbin der Revolution sieht, bei der Revolution am 14. Januar 2011?

Hamma Hammami: Ennahda ist eine konservative Partei, die nie für die Revolution gekämpft, geschweige denn ein revolutionäres Programm hat. Als die Leute auf die Straßen gingen, war Ennahda nicht dabei. Ich kenne viele Verantwortliche von Ennahda – und sie hielten sich heraus, weil sie Angst davor hatten, dafür verantwortlich gemacht zu werden. Sie haben von der Revolution profitiert. Aber jeder in Tunesien weiß, dass die Islamisten beim Sturz der Diktatur keinerlei Rolle spielten.

Das Ehepaar

■ Familie: Radhia Nasraoui und Hamma Hammami sind seit 1981 verheiratet. Sie haben drei Kinder, Nadia, Oussaïma und Sarah, die Hamma, wie er selbst sagt, selten sah.

■ Verhaftung: Als Hamma Hammami am 31. März 2002 infolge seiner Parteimitgliedschaft erneut zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten verurteilt wurde, trat Radhia Nasroui in einen 38-tägigen Hungerstreik, um die Freilassung ihres Mannes zu erzwingen und politische Freiheiten für die Bürger ihres Landes zu erreichen. Am 4. September 2002 kam ihr Mann, für den sich auch internationale Menschenrechtsgruppen eingesetzt hatten, frei.

■ Untergrund: 2003 trat Rahdia wegen anhaltender Repression erneut in den Hungerstreik. Infolge ihrer politischen Tätigkeit war das Paar beständiger Beschattung und Gewalttätigkeiten durch die Polizei ausgesetzt. Trotz ständiger Überwachung wurde ihre dritte Tochter Sarah gezeugt.

Radhia Nasraoui: Im Gegenteil Hamma, noch nach dem Sturz hat Ennahda im Fernsehen öffentlich gefordert, Ben Ali solle die Staatsgeschäft weiterführen, hin zu einer demokratischen Öffnung.

Frau Nasraoui, in Europa sieht man heute die Frauen als VerliererInnen der Revolution. Was sagen Sie dazu?

Radhia Nasraoui: In Tunesien haben die Frauen immer eine wichtige Rolle gespielt. Sie haben an allen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen teilgenommen. Und nicht nur die Mittelschichtfrauen. Wenn ich an die Verhaftung der Phosphat-Minenarbeiter denke: Ihre Frauen haben mit Demonstrationen, Sit-ins und Hungerstreik für ihre Männer gekämpft. Es war beeindruckend, den Mut dieser Frauen zu sehen. Seit dem 17. Dezember 2010 waren Frauen dauernd auf der Straße.

Und heute?

Radhia Nasraoui: Es gibt Bedrohungen. Man spricht wieder von der Polygamie, und Ennahda-Chef Ghanouchi will diese sogar als individuelle Freiheit verkaufen. Es gibt auch wieder Leute, die eine islamische Ehe auf Zeit eingehen. Das ist in Tunesien verboten. Entweder man heiratet oder man lässt es. Und es gibt Leute, die die Scharia verteidigen, als Quelle unserer Rechtsprechung. Ennahda paktiert mit allen konservativen Strömungen, die die Rechte der Frauen beschneiden wollen. Als sie noch im Untergrund waren, haben sie die Gleichheit der Frauen auf ihre Fahnen geschrieben – jetzt nicht mehr. Und das ist für uns in Tunesien, wo die Frauen in fast allen Bereichen außer im Familienrecht gleichgestellt sind, ein Rückschritt. Ennahda will die Gleichstellung der Frau im Familienrecht auf gar keinen Fall. Im vergangenen Herbst gab es deshalb die Diskussion darüber, dass die Frau nicht als gleich, sondern als komplementär in der Verfassung bezeichnet werden soll. Aber zum Glück reagieren die Frauen und wehren sich.

Hamma Hammami: Und es gibt viele Männer, die sie dabei unterstützen.

Herr Hammami, Sie wurden schon als Herr Nasraoui angesprochen. Stört Sie das?

Hamma Hammami: Nein, überhaupt nicht. Das kommt von einer Frau aus der Ennahda-nahen Miliz, die mich so genannt hat, um mich damit als Pantoffelheld zu denunzieren. Ich habe geantwortet, dass es mich stolz macht, mit dem Namen meiner Frau angesprochen zu werden.

Edith Kresta ist taz-Redakteurin. Ihre Tochter ist Halbtunesierin

Renate Fisseler-Skandrani ist Mitarbeiterin des Goethe-Instituts in Tunis