: Die Kosten der Freiheit
AUSSTELLUNG Das K’ – Zentrum Aktuelle Kunst zeigt ab Freitag Bilder von Miron Zownir. „Offene Wunden“ erzählt eine andere Geschichte vom postsozialistischen Osteuropa
Miron Zownir
VON ANDREAS SCHNELL
Ein bisschen ist es vielleicht wie bei dem schon beinahe sprichwörtlichen Autounfall: Wegschauen geht nicht, hinschauen auch nicht. Es verursacht regelrechte Beklemmungen, die Bilder von Miron Zownir anzuschauen. Dabei zeigt er im Grunde alles andere als Unfälle.
In Bremen sind nun „Bilder aus dem freien Osteuropa“ zu sehen, wie der Untertitel der Ausstellung „Offene Wunden“ ankündigt. Eine Formulierung, die geradezu grimmig die Zähne fletscht. War das nicht eigentlich laut westlicher Propaganda eine der großen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte? Moskau, Kiew, Bukarest, Katowice, Lodz, Posnan, St. Petersburg und noch ein paar andere Städtenamen tauchen immer wieder auf, in Kombination mit Jahreszahlen geben sie die Titel der Arbeiten ab, entstanden zwischen 1995 und 2012.
Wobei es frappiert, wie wenig sich in all der Zeit getan zu haben scheint. Verstümmelte Körper, verdreckte Hinterhöfe, Elend, Gewalt, Tod. Eine Leiche, die offenbar seit Tagen auf der Straße liegt. Undenkbar im reichen Westen? Wahrscheinlich schon. Vielleicht: noch. Es ist ja auch diese Armut nicht einfach irgendeine Armut. Wir wissen, dass es in den Ländern, in denen Zownir in den letzten Jahren immer wieder unterwegs war, eigentlich auch alles zu kaufen gibt, sofern eine zahlungskräftige Nachfrage existiert. Auch die, das wissen wir ebenfalls, gibt es.
Miron Zownir ist kein Kommunist. Wehmütige Verklärung realsozialistischer Verhältnisse dürfte ihm fern liegen. Seine Fotos aus dem New York der frühen achtziger, dem Berlin der späten siebziger Jahre und dem von heute lassen sich stilistisch kaum unterscheiden von seinen Osteuropa-Bildern.
Zownirs legendärer Bildband heißt „Radical Eye“, der Blick ist das Prinzip. Was natürlich nicht bedeutet, dass ihm egal wäre, was da vor die Kamera kommt. Das wäre ja auch abwegig. Aber er dokumentiert und knallt seinem Publikum die Ergebnisse vor den Latz, als einzige Kontextualisierung gibt es Orte und Jahre. „Ich fotografiere es einfach, weil es mich interessiert und weil ich glaube, dass es wichtig ist. Irgendjemand muss es ja tun“, formuliert er in einem Interview mit der Website Ukraine-Nachrichten.de.
Wie der Mann sein Bein verloren hat? Wer einem anderen die Wunden beibrachte, die von Sanitätern versorgt werden? Wie hat die Moskauerin ihr Auge verloren? Die Bilder und die Menschen darauf behalten ein Geheimnis, das ihnen womöglich niemand mehr je wird entlocken können.
Aber darauf kommt es nicht wirklich an. Was nämlich gar kein Geheimnis ist: Es sind die Lebensverhältnisse, die die Menschen zerstören. Oligarchen und lupenreine Demokraten, Edeldiskotheken und grandiose Landschaften sind, es ließe sich ja auch anders herausfinden, nur eine Seite der neuen Freiheit im Osten. Dass die Zerschlagung eines alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwurfs mit massenhafter Verarmung einherging, ist eben kein Geheimnis. Nur lassen Zownirs Bilder keine Gleichgültigkeit, kein Relativieren der kapitalistischen Brutalitäten als bedauerliche Einzelfälle zu.
„Manchmal hab ich gekotzt oder geheult, wenn die Kamera weg war. Ich bin ja ein Mensch“, erzählte mir Zownir vor Jahren in einem Interview. Aber es muss ja jemand machen. Weil es sonst niemand tut. Außer ein paar anderen Künstlern, Schriftstellern wie dem großen Hubert Selby zum Beispiel. Auch wenn das eine politische Analyse nicht ersetzt. Auch wenn ein Foto keine Armut lindern kann.
Zownir zeigt uns schonungslos das, was wir vielleicht, siehe Autounfall, gar nicht sehen wollen. Weil wir aber hinschauen müssen, ist er in der Lage, Ideologien zu sprengen, unseren Blick zu schärfen. Er betreibt Aufklärung, „zynisch, radikal, aber ehrlich“, wie er selbst es einmal beschrieben hat.
■ Miron Zownir: „Offene Wunden – Bilder aus dem freien Osteuropa“, Vernissage: Freitag, 19 Uhr, bis 22. 2., K’ – Zentrum Aktuelle Kunst, www.kstrich.de