: Ein Mahnmal noch zu Lebzeiten
AUS DORMAGEN LUTZ DEBUS
Dormagen, Kleinstadt zwischen Köln und Düsseldorf. Es ist der 3. September 2005. Vor der Metzgerei Paschek-Dahl spielt das Flötenquartett der Musikschule Mendelssohn-Bartholdy, Passanten bleiben stehen, schnell bildet sich eine Menschenmenge. „Die letzten Zeitzeugen sterben in diesen Jahren“ – mit diesen Worten beginnt Pfarrer Heinz Tenhafen seine Rede an die Umstehenden. Eine elegante alte Dame sitzt auf einem Stuhl. Zu ihren Füßen, in den Bürgersteig eingelassen, leuchten sieben Messingplatten in der Sonne. Auf einer der Platten steht ihr Name: Emmi Dahl.
17 Jahre war sie alt, als 1938 in der Reichspogromnacht die Fleischerei ihres Vaters verwüstet wurde. Heute, 84-jährig, folgt sie, den Blick in die Ferne gerichtet, den Worten des Pfarrers. Fotografen umringen sie, sie probiert ein Lächeln.
Auf die Fotos muss nun noch der Bürgermeister. Und natürlich der Künstler Gunter Demnig, der bundesweit knapp 6.000 dieser Stolpersteine verlegt hat. Mit den kleinen Mahnmalen erinnert er an das Schicksal von Menschen, die von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet wurden. Der ehemalige Stadtdirektor muss auch noch aufs Bild. Sie alle lächeln. Emmi Mendel, geborene Dahl, gelingt es nicht.
In einem Haus mit spitzem Giebel wohnt Emmi Mendel mit ihrem Mann. Ein kleines Dorf nahe Krefeld, niederrheinische Kopfsteinpflastergemütlichkeit. Die Gastwirtschaft ein paar Häuser weiter ist schon am Nachmittag voll. Im Wohnzimmer der Mendels stehen schwere Eichenschränke. Auf dem Tisch liegt die Jüdische Allgemeine. Hier, in ihrem Haus, lächelt Emmi Mendel.
„Eine wunderbare Kindheit“ habe sie gehabt in den Zwanzigerjahren, erinnert sie sich. Die Eltern, assimilierte Juden, führten eine der modernsten Metzgereien von Dormagen. Die Wände gefliest, die Theke aus Glas und Marmor. Einen ausgezeichneten Ruf hatte das Geschäft. An langen Sommerabenden saß die Familie gern auf der Bank vor dem Laden. Dormagen hatte damals 6.000 Einwohner. Jeder kannte jeden. Zu Chanukka, dem jüdischen Lichterfest im Winter, war der Laden geschlossen. Dann spielte die Familie Trendel, ein Glücksspiel, die Kinder um Nüsse. Abends las der Vater seinen Kindern Geschichten vor. Ein guter Vater, erinnert sie sich. Auch ein guter Deutscher. Im Ersten Weltkrieg war er begeisterter Soldat, bekam gar das Eiserne Kreuz zweiter Klasse verliehen.
1933, Emmi war zwölf Jahre alt, endete die wunderbare Kindheit. Immer wieder wurden jetzt nachts die Fenster der Metzgerei eingeworfen. Jemand schrieb mit weißer Farbe auf den Bürgersteig „Kauft nicht bei Juden!“ In der Zeitung stand, dass jüdische Metzger Aas und Abfälle in ihre Würste stopfen. In der Schule sangen die Kinder das Horst- Wessel-Lied. Emmi sang nicht mit, ließ auch ihren rechten Arm unten. Ihre Lehrerin, Fräulein Fingerhut, schützte sie vor manchen Mitschülern so gut es ging.
Dann kam der 9. November 1938. Am späten Abend bremsten Lastwagen vor der Metzgerei Dahl. Es waren SA-Einheiten aus dem 15 Kilometer entfernten Neuss. Schaulustige blieben stehen. Erste Steine flogen. Fensterscheiben klirrten. Durch die zersplitterte Tür drängten die SA-Männer in den Laden, schlugen die Einrichtung kurz und klein, stahlen Schinken und Würste. Auch einige Dormagener machten da mit. Nur eine Nachbarin protestierte von ihrem Fenster aus: „Was macht ihr denn da mit den Dahls?“
Schließlich drang die SA auch in die Wohnung der entsetzten Familie ein. Der Metzger Louis Dahl wurde verhaftet, auch Jakob, Emmis Bruder. Sie durfte dank des Protests eines Arztes bei der kranken Mutter bleiben.
Vater und Sohn kamen zwar nachts, als die SA abgerückt war, wieder nach Hause. Aber das Geschäft wurde geschlossen, die Familie musste wenig später das Haus verkaufen. Zum Spottpreis. Und selbst diese Summe zog das Reich ein. Schließlich, so die offizielle Begründung, mussten die Juden für den am 9. November entstanden Sachschaden aufkommen. Sie hätten die „Unruhen“ ja angezettelt. Der Vater musste nun als Hilfsarbeiter in einem Pumpwerk arbeiten, der Bruder Eisenbahnschwellen verlegen, Emmi wurde Dienstmädchen bei einer jüdischen Familie in Köln, getauften Juden.
„Das half denen auch nichts“, sagt Emmi Mendel heute, „die wurden noch vor uns abgeholt.“ Ganz aufrecht sitzt sie auf ihrem Stuhl an der Kaffeetafel neben Kurt Mendel. „Sie kommen reichlich spät“, poltert er den Besucher an. Gleich darauf lächelt er. Der Ehemann von Emmi Mendel hat mehrere Schlaganfälle erlitten, seitdem funktioniert sein Gedächtnis nicht mehr so recht. „Ich habe meinen Mann auf dem Transport nach Riga kennen gelernt.“ Emmi Mendel legt ihre Hand auf seine – die Tochter eines Metzgers und der Sohn eines Viehhändlers, das sind die beiden.
Am 10. Dezember 1941 wird die gesamte Familie Dahl abgeholt, auf der Ladefläche eines Lkw nach Mönchengladbach gebracht. Von dort geht es mit dem Güterzug nach Düsseldorf, wo jüdische Familien auf dem Schlachthof gesammelt werden. Tausend Menschen, zwanzig Kilo Gepäck hat jeder dabei. Am nächsten Tag geht der „Transport Düsseldorf“ nach Lettland. Die Familie Dahl wird mit 20.000 Juden aus ganz Deutschland ins Ghetto von Riga getrieben. Juden aus Osteuropa hatten zuvor hier gelebt, auch in der Wohnung der Familie Dahl: Auf dem Tisch stand noch das Mittagessen.
Emmi Mendel hebt die Augenbrauen, fixiert den Besucher. Doch, doch, sie könne über das Ghetto reden. Über alles reden. Ihr Mann habe nie erzählt von früher, sie schon. Vor kurzem war sie sogar eingeladen. Geschichtsunterricht in einer Realschule. Da habe sie erzählt, vom Lager. Nur nachher hätte sie ganz zitterige Hände gehabt. Und dann sagt sie: „Wenn die Leut’ aufgehangen wurden, mussten wir zugucken. Am schlimmsten aber war der Geruch der Öfen. So süßlich.“
Bis 1944 blieb Emmi Dahl in Riga. Ihre Eltern wurden in jenem Jahr erschossen. Emmi aber brachte man ins KZ Stutthoff bei Danzig. Als auch dort die Front näher rückte, trieb die SS die Gefangenen bei eisiger Kälte nach Westpreußen. Am 13. März 1945 wurde Emmi Dahl von der Roten Armee befreit. Sie war 23 Jahre alt, wog 24 Kilo, hatte Typhus und Fleckfieber. Ein Zeh war ihr abgefroren.
Sie brauchte ein halbes Jahr, bis sie im Oktober gesundheitlich in der Lage war, nach Dormagen zurückzukehren. Ihr Bruder, der nach einer Odyssee durch verschiedene Lager aus dem KZ Theresienstadt befreit worden war, hatte mit Hilfe jüdischer Hilfsorganisationen das elterliche Haus zurückgekauft und die Metzgerei wiedereröffnet. Zwei Jahre wohnte sie bei ihm. Dann heiratete sie.
Ihr Mann, Kurt Mendel wollte damals eigentlich mit ihr in die USA emigrieren. Doch sie brachte es nicht fertig, erneut ihren Bruder zu verlassen. So führte Kurt Mendel das Geschäft fort, das seine Eltern hatten aufgeben müssen: Er wurde Viehhändler in Kempen bei Krefeld. Und Emmi zog mit ihm die vierzig Kilometer rheinabwärts.
Emmi Mendel hat es nicht bereut, in Deutschland geblieben zu sein. Viele Freunde hat sie im Dorf. Keiner davon ist Jude. Ihre Tochter und ihr Enkel wohnen nebenan, kommen oft zum Mittagessen rüber. „Oma, du musst noch lange für mich kochen“, sagt der 29-jährige Enkelsohn.
Das klingt nach Normalität. Aber die Vergangenheit lässt Emmi Mendel nicht in Ruhe. Deshalb sind die Mendels vor zehn Jahren nach Israel gereist. Es war schwer. Natürlich war die Altstadt von Jerusalem beeindruckend. Auch die Klagemauer. Und die grünen Felder überall. Die Gedenkstätte Jad Vaschem hat sie dann mehrere Male besucht. Dort fand sie auch die Namen ihrer Eltern.
Und dann, im letzten September, dieser Festakt in Dormagen. Sie musste sich schon zusammenreißen, sagt sie. Natürlich sei Gedenken wichtig. „Doch warum soll ich ein Stolperstein sein? Ich finde es merkwürdig, dass da Leute mit Füßen auf meinen Namen treten.“ Vor einigen Tagen beobachtete ihre Nichte, die jetzt die Metzgerei führt, dass Jugendliche auf die kleinen Messingplatten spuckten.
Heute Abend werden die Mendels in Kempen bei der Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht sein. Dort, wo bis 1938 eine prächtige Synagoge stand, werden der Bürgermeister und andere Honoratioren sprechen. Auch in Dormagen wird des 9. November 1938 gedacht, auf dem Jüdischen Friedhof.
Haben die Toten einen Platz in Emmi Mendels Leben? „Mein Vater war religiös“, antwortet sie. „Aber im Ghetto von Riga hat er sich gefragt, ob es einen Herrgott geben kann, der bei all dem zuschaut.“ Für Emmi Mendel ist klar, dass nach dem Tod nichts mehr kommt. Oder doch: „Nachts, wenn alles dunkel und still ist, kann ich meine Eltern sehen. Ich stelle sie mir nur vor. Aber es fühlt sich an, als wären sie da.“
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