: Der Kredit ist verbraucht und Orientierung nicht in Sicht
AUS GLEISSENBERG, GRÖDENUND ESSEN HEIKE HAARHOFF
Gleißenberg. Für den Pfeifer Anton hat die Partei nichts tun können. Bauzeichner ist er gewesen bei einer Fertighausfirma, jahrelang, qualifiziert, unangefochten. Unvorstellbar, dass er einmal auf der Straße landen würde. Natürlich ist eine Unternehmenspleite immer schlimm, aber doch nicht für einen wie den Pfeifer Anton mit seinen Kontakten, dachten die Leute im Dorf. Denn Anton Pfeifer ist der Vorsitzende der CSU in Gleißenberg, der mächtigste Mann in diesem schönen Luftkurort im Bayerischen Wald, sieht man einmal vom Pfarrer ab und vielleicht noch vom Schützenkönig. Seine Verbindungen reichen bis nach München. „Irgendwie haben wir schon gedacht, dass sich, wie soll man sagen, etwas für ihn findet“, sagt Matthias Fischer, sein Nachbar und Stellvertreter bei der CSU in Gleißenberg.
Allein, es fand sich nichts. Die Region ist strukturschwach, Gleißenberg sieben Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt, dem Lohngefälle, den Tücken der Globalisierung. Da hat auch die Partei heutzutage keinen Einfluss mehr. Und so wurde Anton Pfeifer mit über 50 Jahren Gastarbeiter in Italien, erst als Mädchen für alles in einem Fünfsternehotel, mittlerweile hat er sich aufs Brotbacken spezialisiert. Sein Geld schickt er heim zu Frau und Kindern. Seine Familie, seine Freunde, seine Parteikollegen sieht er manchmal monatelang nicht.
Wenn die CSU, diese große Volkspartei, nicht einmal über die nötigen Beziehungen verfügt, einem der ihren zu einem Job zu verhelfen – wie soll sie dann Deutschland in die Gänge bringen? Wie Zuversicht verbreiten, Zukunftsängste vertreiben, Signale des Aufschwungs setzen? Und das alles – ausgerechnet – in einer Koalition aus CDU, SPD und CSU, den drei Volksparteien, die wegen des Wahlergebnisses vom 18. September nun ihr Zweckregierungsbündnis besiegeln wollen, die aber nicht wirklich von sich behaupten können, das Vertrauen des Volkes zu haben.
Denn so paradox es klingt: Diejenigen, die bald regieren werden, haben die Bundestagswahl verloren, und zwar alle drei. Zugelegt haben nur die kleinen Parteien. Den Volksparteien aber sind erst die Wählerstimmen abhanden gekommen. Dann mit Müntefering und Stoiber auch noch wichtiges Führungspersonal. Von Glaubwürdigkeit, Beständigkeit und Integrationskraft gar nicht zu sprechen.
Entsprechend gering sind das Wohlwollen, das Interesse und das Zutrauen, mit denen ihnen landauf, landab begegnet wird. Nicht bloß bei den Wählern, sondern auch an der Parteibasis. Beispielsweise im bayerischen Gleißenberg, wo die CSU um 20,3 Prozentpunkte abgesackt ist. Beispielsweise im brandenburgischen Süden nahe Senftenberg, wo die SPD 14,1 Prozentpunkte verloren hat, so viel wie nirgends sonst in Deutschland. Beispielsweise im nordrhein-westfälischen Essen, wo sich die CDU nach jahrelangem Aufstieg ihres Direktmandats bereits sicher wähnte – und es dann doch grandios verfehlte. Wohl selten ist eine neue Regierung mit so wenig Kredit an den Start gegangen.
Man kann durchs Land reisen und der Frage nachgehen, wie so etwas kommt. Aber zunächst kommt es, dass Anton Pfeifer an diesem milden Herbstabend in Gleißenberg nicht dabei sein kann, als sich seine politischen Freunde am rustikalen Esstisch der Familie Fischer unter dem Jesuskreuz einfinden, um über die Konsequenzen aus dem Wahlausgang von Gleißenberg nachzudenken: sein Stellvertreter, der örtliche Sparkassenleiter Matthias Fischer, 42 Jahre, sein Vorgänger, der Schreiner Konrad Dobmeier, 71 Jahre, und ein weiteres langjähriges CSU-Mitglied, der pensionierte Grund- und Hauptschullehrer Hans-Ludwig Rotermann, 63 Jahre.
Mehr als einen Ausgang mögen die drei Männer, die da in zünftigen Strickjacken vor ihrem Hefeweißbier sitzen, in dem Debakel nicht erkennen. 71,6 Prozent hatte die CSU in Gleißenberg noch vor drei Jahren bei der Bundestagswahl erreicht, 51,3 Prozent waren es diesmal. Ein für sich genommen respektables Ergebnis, findet Matthias Fischer und sagt tapfer: „Unsere Stammwähler haben wir im Griff.“
Und die extreme Schwankung? Gleißenberg war schließlich kein Einzelfall. Im gesamten Wahlkreis Schwandorf ist die CSU dramatisch abgestürzt, 14 Prozentpunkte Verlust waren es im Durchschnitt. Das muss Gründe haben.
Ach, die Gründe. Die Männer winken ab. Die Gründe kannten sie schon vor der Wahl, anders als viele Demoskopen und Spitzenpolitiker, die es versäumt hatten, den Menschen in Gleißenberg und anderswo in der Provinz aufmerksam zuzuhören. Und die dann am Wahlabend schockiert waren. „Wir“, sagt Matthias Fischer, „haben das geahnt.“
Denn viele CSU-Sympathisanten im Dorf hatten ja im Vorhinein gebeichtet, dass sie dieses Mal der FDP ihre Stimme leihen würden oder ganz zu Hause bleiben. Viele, sagt Matthias Fischer, hatten das Gefühl, in den großen Parteien herrschten bloß noch Chaos, Orientierungslosigkeit, Uneinigkeit und persönliche Eitelkeiten. Die Rückzüge des SPD-Parteichefs Müntefering und des CSU-Vorsitzenden Stoiber, mitten in den Koalitionsverhandlungen, passen in dieses Bild. „Die Menschen wollen aber Persönlichkeiten, an denen sie sich orientieren können“, sagt Matthias Fischer.
Jeder vierte ehemalige CSU-Wähler in Gleißenberg hat die angekündigte Sünde dann am Wahlabend tatsächlich begangen. Und diese Entscheidung war nur zu einem Teil beeinflusst von der Erkenntnis, dass man sich, siehe das Beispiel von Anton Pfeifer, ebenso gut emanzipieren könne von einer Partei, die sich paternalistisch gibt, aber ihre Beschützerrolle real längst eingebüßt hat.
Matthias Fischer: „Sie müssen wissen: Wenn hier im Dorf ein Paar unverheiratet zusammenlebt, dann kommt der Herr Pfarrer zu Besuch. Wenn nötig, mehrmals.“
Konrad Dobmeier: „Und bei der Merkel hat’s dann geheißen, aus dem Osten, geschieden, keine Kinder, wos is des für a Weib?“
Hans-Ludwig Rotermann: „Schauen’s, die Mentalität von der Frau Merkel kam hier im Süden nicht so gut an.“
Matthias Fischer: „Das macht dann minus acht bis zehn Prozent.“
Ferner abzuziehen: der Stimmenbonus, den Edmund Stoiber vor drei Jahren in Bayern allein wegen seiner Herkunft einheimste und den kein Kanzlerkandidat nach ihm habe wettmachen können, sowie, speziell in Gleißenberg in diesem Wahljahr: eine rechtsextreme Direktkandidatin, die im Dorf von Haus zu Haus gezogen und die Menschen mit dem Nähe- und Nachbarschaftsfaktor geködert habe. „Eine Eintagsfliege“, glaubt Matthias Fischer.
Gröden. Wenn sich der CSU-Mann aus Bayern da mal nicht täuscht. Tief im brandenburgischen Süden, noch hinter Elsterwerda, dort, wo die Grenze zu Sachsen verläuft, die Gegend ländlich und der öffentliche Nahverkehr spärlich wird, haben die großen Volksparteien Erfahrung mit solchen Eintagsfliegen. Und die Erfahrung ist schlecht. „Das mit den Rechten, das ist ein echtes Problem, das sich leider gefestigt hat“, sagt beispielsweise Holger Stroisch, ein Steuerfachmann, 30 Jahre alt, aufgewachsen in Gröden, wohnhaft in Gröden, kommunalpolitisch interessiert in Gröden. „Meine Eltern sind beide in der SPD, mein Vater ist Dezernent für Kreisentwicklung, da bleibt es nicht aus, dass man sich interessieren muss“, sagt Stroisch. Er selbst ist parteilos, aus gutem Grund, doch dazu später mehr.
Anfangs waren es Schulungen nationalistisch gesinnter Gruppierungen und Kaderorganisationen, von denen berichtet wurde im Landkreis. Dann wählten die ersten Sympathisanten die dahinterstehenden rechtsextremen Parteien, inzwischen bei jeder Landtags- und Bundestagswahl.
In der Gemeinde Gröden, 1.385 Wahlberechtigte, waren es zuletzt 14,1 Prozent der Stimmen, die der NPD zufielen. Ein Rekord im traditionell tief roten Brandenburg, und ein Ergebnis, das die Sozialdemokraten vor Ort wie im gesamten Bundestagswahlkreis Elbe-Elster/Oberspreewald-Lausitz, in dem Gröden liegt, alarmiert. Denn Gröden ist kein Ausreißer, Gröden ist Trend. Überall im Wahlkreis haben die Parteien am äußersten rechten und linken Rand gewaltig zugelegt, während die SPD hier ihren bundesweit höchsten Verlust von 14,1 Prozentpunkten erlitt. Von der Linkspartei, die mit 27,3 Prozent an der CDU vorbeizog und zweitstärkste Kraft wurde, trennen die SPD mit 31,7 Prozent jetzt nur noch 4,4 Prozentpunkte.
Senftenberg. Eine halbe Autostunde von Gröden entfernt, in der Kreisstadt Senftenberg, 26.000 Einwohner, klappt Kerstin Weide in ihrem SPD-Büro einen Aktenordner zu, der die ernüchternden Zahlen auflistet, ach was, sie knallt die beiden schweren Deckel aufeinander. Kerstin Weide ist 43 Jahre alt und Regionalgeschäftsführerin der Unterbezirke Elbe-Elster und Oberlausitz-Spreewald. Sie spricht hektisch und schnell. Das entspricht dem Tempo, mit dem die SPD selbst verschuldet ins Verhängnis geschlittert ist: „Zehn Prozent Wechselwähler hatten wir diesmal, ich denke mir, das wird in der nächsten Zeit noch mehr werden, es war der schwierigste Wahlkampf überhaupt.“
Die Lausitz, die Braunkohleindustrie, einst 70.000 Mann, heute noch 7.000. Der Strukturwandel, die hohe Arbeitslosenquote, das Arbeitslosengeld-II-Ost. „Absurd“, sagt Kerstin Weide. „Und als reichte das nicht: die PDS auf der einen Seite, die Rechten auf der anderen, und wir mittendrin mit unseren Wahlkampfständen und Antworten, die komplizierter waren als die der Extremen.“ Sie hält inne, damit man das sozialdemokratische Untergangsszenario ein wenig auf sich wirken lassen kann. Dann guckt sie herausfordernd, aus großzügig geschminkten Augen. Es ist die Stimme, die verrät, dass ihr eigentlich zum Heulen zumute ist: „Manchmal weiß ich nicht mehr, was ich den Leuten noch erzählen soll.“
Dass es keine weiteren sozialen Einschnitte geben wird? „Ich kann nicht lügen.“ Dass der Aufbruch, die Veränderung, die besseren Beschäftigungsverhältnisse sich noch einstellen werden? „Ich sage doch, ich kann nicht lügen.“ Dass eine große Koalition vielleicht für stabile Verhältnisse im Land sorgen kann, wenn auch nicht für eine neue gesellschaftspolitische Dimension? Da wird ihr Lächeln zynisch. „Sie wissen doch gar nicht, welches Personal morgen regiert.“
So unstet das personelle und inhaltliche Kontingent der Parteien, scheint es, so unstet das Wählerverhalten und so gering die Bereitschaft, sich an eine Partei zu binden, geschweige denn, ihr zu vertrauen.
Gröden. In Gröden hat Holger Stroisch, der 30-jährige kommunalpolitisch interessierte Steuerfachmann aus sozialdemokratischem Elternhaus, schon vor sieben Jahren eine Konsequenz aus dieser Erkenntnis gezogen. Damals, 1998, gründete er mit anderen jungen Leuten, die sich eigentlich dem SPD-Programm nahe fühlten, die „Allianz für Gröden“. „Ganz bewusst haben wir keinen SPD- Ortsverein aufgemacht“, sagt Holger Stroisch, „sondern ein Bürgerbündnis.“ Der Vorteil: Das Bündnis habe eine hohe Akzeptanz, weil es weder mit dem Ärger über die Bundes-SPD in Verbindung gebracht werde noch der generellen Skepsis gegenüber Massenorganisationen begegnen müsse. Mittlerweile hat sogar Holger Stroischs Vater, der sozialdemokratische Kreisdezernent Eberhard Stroisch, 54, eingesehen: „Die guten Ergebnisse der Allianz hätte die SPD in Gröden nicht erzielt.“ Denn es steckt SPD drin, steht aber nicht drauf.
Wenn es so weit gekommen ist in Brandenburg, dass sich die Partei hinter einem anderen Namen versteckt, um größeren Schaden abzuwenden, ausgerechnet in Brandenburg, der SPD-Hochburg: wie geht es dann erst anderswo in der Republik zu?
Essen. Gar nicht so schlecht, vergleichsweise. Essen, der „Schreibtisch des Reviers“, ist unschrill wie eh und je. Darauf ist zum Glück immer noch Verlass. Die Krise der Volksparteien? Ach ja. Soll man sich wirklich aufregen darüber? Nur weil die Volksparteien zur Tradition der Bundesrepublik zu gehören schienen? Ist es nicht vielmehr so, wie das Beispiel Essen zeigt: Es gibt vermeintliche Gewissheiten, die jahrzehntelang währen, bis sie sich über Nacht als unzutreffend erweisen.
43 Jahre lang schien es, als seien Essen und die SPD Synonyme, 43 Jahre lang hat die SPD hier mit absoluter Mehrheit geherrscht. Dann eroberte 1999 Wolfgang Reiniger das Essener Rathaus. Ein Christdemokrat! Ein Tabubruch in der ehemaligen Arbeiterstadt. 2004 wurde Reiniger sogar wiedergewählt. Das städtische Haushaltsloch klafft freilich weiterhin, es ist eines der riesigsten in Deutschland, und der Strukturwandel könnte auch besser vorangehen, obwohl in Essen jetzt Schwarz-Grün regiert. Das Leben aber geht trotzdem weiter, im gebeutelten Essener Norden wie im schnieken Essener Süden mit seiner herausgeputzten Villa Hügel und Ausflugslokalen in staubfreier Lage am Baldeneysee.
Und, wie isset? – Muss. – Hauptsache!
Mag ja sein, dass da in Berlin eine Koalition ausgehandelt wird von Parteien, denen die Wähler davonlaufen. Was soll man dazu sagen? Vielleicht: An wen keine Erwartungen mehr geknüpft werden, der kann auch nicht enttäuschen.
Es sagt der evangelische Pfarrer Götz Kreitz, 48: „Wer regiert, macht da oben nicht viel aus.“ Es sagt die BWL-Studentin Svenja Schmalz, 22: „Ich mache mir keine Hoffnungen, dass unter einer neuen Regierung irgendetwas besser wird. Ich wäre schon begeistert, wenn ich mein Studium ohne Gebühren fortsetzen könnte.“ Es sagt der Leiter des Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen, 57: „Sie können mir glauben, dass ich mir politisch etwas anderes wünschen würde, auch für die Migranten. Aber die ganz große Katastrophe? Ach was!“ Es erwidert der Professor für Organisationspsychologie Wolfgang Stark, 51: „Wir stellen fest, dass die Bereitschaft der Menschen steigt, sich zu engagieren, falls es um sinnvolle Projekte geht. Das ist ermutigend für die Zivilgesellschaft, aber nicht für die großen Parteien in ihrem jetzigen Zustand.“
In ihrem jetzigen Zustand. „Wir“, sagt Henning Aretz, „haben uns schon als Sieger gefühlt.“ Aretz, 49, ist der Leiter Gasverkauf Mittelosteuropa bei der EON Ruhrgas AG in Essen. Ein ziemlich hohes Tier innerhalb des Energiekonzerns und zugleich ein ziemlich erfolgreicher Politiker. Von allen CDU-Direktkandidaten im Ruhrgebiet hat er das beste Erststimmenergebnis erreicht bei der Bundestagswahl: 37,4 Prozent. Gereicht hat es trotzdem nicht für ein Mandat – Aretz, der so siegessicher war, musste erleben, wie sein Wahlkreis von der SPD gewonnen wurde. Er war nicht zusätzlich über einen Listenplatz abgesichert.
Jetzt sitzt er im Wohnzimmersessel, ein mittelgroßer Mann mit grauem Anzug, rechteckiger Brille, Seitenscheitel und Bauchansatz, der global denkt und arbeitet und dessen vier Kinder alle aus dem Haus sind. Er blickt durch die Panoramascheiben auf seinen Gartenteich, sagt: „Man kann sich selbst immer nur messen am Bundestrend. Und der Bundestrend ist ein Tiefschlag für die Union.“ Er sagt das weder verzagt noch kleinlaut, sondern so, als sei ihm gerade ein Geschäft geplatzt und er müsse jetzt bloß seine Verhandlungsstrategie überdenken: „Wir hatten doch die SPD bereits bei allen Wahlen im Ruhrgebiet überholt!“
Seit 1999 dauerte die Glückssträhne der CDU im Revier an. Sechs Jahre lang eroberten Christdemokraten, die in den Arbeiterstädten zuvor 40 Jahre lang kein Bein auf die Erde bekommen hatten, bei Kommunal- und Europawahlen eine sozialdemokratische Hochburg nach der anderen zwischen Duisburg und Dortmund. Selbst da, wo sie nicht das jeweilige Mandat gewann, verringerte die CDU immerhin den Abstand zur SPD. Deren Alleinherrschaft war erstmals seit Kriegsende bedroht. Und schließlich die Landtagswahl 2005! Der Wechsel schien endgültig, die rot-grüne Landesregierung gestürzt, es war der Anlass für den Kanzler, Neuwahlen auszurufen.
Henning Aretz ist noch immer aufgeregt, wenn er sich an diesen Moment erinnert, der ihn und seine Partei darin bestärkte, sich auf Bundesebene einen bombastischen Sieg zu prophezeien: „Die Menschen wollten den Wechsel!“
Und wählten dann doch wieder, bei der erstbesten Gelegenheit, wie eh und je mehrheitlich die SPD im Ruhrgebiet. Als sei die Phase ab 1999 eine Verirrung gewesen, als sei ihnen nicht geheuer, was sie da zuvor mit ihrem Landtagsvotum ausgelöst hatten. Als müssten sie sich auf Altbewährtes zurückbesinnen.
„Es gab so eine trotzige Mutlosigkeit in der Bevölkerung“, sagt Henning Aretz. Die feste Überzeugung, dass es unter keiner Regierung, egal welcher, wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Verbesserungen geben werde, gehörte dazu. „Das war das Schlimmste. Da kommen Sie nicht gegen an“.
Er glaubt trotzdem nicht an ein dauerhaftes Comeback der SPD. Er hat in Bonn, Kapstadt, Brüssel und Hamburg gelebt, bevor er berufsbedingt ins Ruhrgebiet umzog. Er weiß, wie lange Mentalitätswechsel zuweilen brauchen. Er sagt: „Die Menschen halten nicht mehr Parteien die Treue, sondern sie bleiben ihrem Wahlverhalten bei unterschiedlichen Wahlen treu.“ Weswegen das gute Abschneiden der CDU in Essen bei Kommunal-, Europa- und Landtagswahlen eigentlich kein Widerspruch sei zum Ausgang der Bundestagswahl.
Beim nächsten Mal will sich Henning Aretz aber zusätzlich um einen guten Listenplatz bewerben. Man weiß schließlich nie. Wie lange so eine große Koalition hält, beispielsweise. „Vielleicht reichen ja zwei Jahre bis zum endgültigen Zerwürfnis“, sagt er. Es klingt wie eine dringliche Bitte.