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Archiv-Artikel

BETTINA GAUS MACHT Schavan und die Schuld

Im Zeitalter des Internet muss die Frage nach dem Zeitpunkt der Verjährung neu gestellt werden

Seit Jahrzehnten habe ich einen wiederkehrenden Traum: Eine Behörde teilt mir mit, ich müsse eines Formfehlers wegen noch einmal ein Jahr zur Schule gehen. Das Perfide daran ist, dass dieser Traum stets in meiner jeweiligen, realen Lebenssituation angesiedelt ist, sich die Behörde aber allen Bitten um Aufschub oder gar Milde verweigert. Ob ich ein Baby zu versorgen habe oder ob mir der Verlust des Arbeitsplatzes droht – nichts spielt eine Rolle. Mein Leben ist ruiniert.

Bisher hielt ich diesen Traum für realitätsfern. Annette Schavan dürfte das anders sehen. Nein, ich halte ein Plagiat nicht für einen Formfehler, und, nein, ich setze ein Abitur nicht mit einer Promotion gleich. Mich beschäftigt: Welches Verhalten rechtfertigt welchen Eingriff in ein Leben – und wie lange? Die uralte Frage nach dem Zeitpunkt für Verjährung. Die sich seit Erfindung des Internet neu stellt.

Das Internet wird dafür sorgen, dass Leute viel häufiger als bisher mit ihrer Vergangenheit konfrontiert werden – auch Leute, die sich das jetzt noch nicht träumen lassen. Im Jahr 2040 will eine 50-Jährige in einer katholischen Klinik Chefärztin werden. 2010 hat sie Nacktfotos ins Netz gestellt. Ein Bürgermeister rief als Jugendlicher auf Facebook zu Gewalt auf. Kann, muss, darf das Folgen haben?

Gäbe es das Internet nicht: Niemand hätte sich die Mühe gemacht, die Arbeiten von Annette Schavan, Karl-Theodor zu Guttenberg und anderen Prominenten auf Plagiate hin zu überprüfen. Das spricht nicht gegen die Prüfung. Es ist schließlich auch nichts dagegen zu sagen, dass die Staatsanwaltschaft heute DNA-Spuren als Beweismittel nutzen kann und nicht mehr allein auf Fingerabdrücke angewiesen ist. Wenn technischer Fortschritt der Aufklärung dient, dann ist das erfreulich. Aber man muss auch über die gesellschaftlichen Konsequenzen reden, die daraus erwachsen.

Wie schwer die Fehler wiegen, die Annette Schavan bei ihrer Promotion gemacht hat, kann ich nicht beurteilen; ich verstehe davon nichts. Es wundert mich, wie selbstsicher das Thema derzeit in Foren erörtert wird. Bisher wusste ich gar nicht, wie viele Philosophen es in Deutschland gibt. Da ich selbst jedoch keine Philosophin bin, verlasse ich mich auf das Urteil der Universität Düsseldorf und gehe davon aus, dass der Entzug der Doktorwürde gerechtfertigt ist. Sachlich gerechtfertigt.

Moralisch auch? Selbst Kapitalverbrechen verjähren. Karl-Theodor zu Guttenberg wurde nach vier Jahren als Plagiator enttarnt. Annette Schavan nach 33 Jahren. Das ist ein Unterschied.

Das Prinzip der Verjährung beruht ja nicht darauf, dass Vergehen oder Verbrechen – abstrakt betrachtet – nach zehn oder hundert oder tausend Jahren mit weniger Schuld beladen sind als zu dem Zeitpunkt, zu dem sie begangen werden. Sondern darauf, dass die Justiz bei einem Urteil auch den Lebensweg der Täter zu berücksichtigen hat.

Der Entzug der Doktorwürde ist keine Haftstrafe, schon klar. Aber das ist ein sehr technisches Argument. Für Annette Schavan ist der Spruch der Universität die Höchststrafe.

Auch eine Promotion sollte irgendwann unangreifbar sein, so wie schon jetzt das Abitur. Vorschlag: nach 15 Jahren, meinetwegen nach 20 Jahren. Hätte es schwerwiegende Folgen für die Wissenschaft, sollten Doktorarbeiten danach nicht mehr zitierbar sein? Man möchte nicht hoffen, das die Forschung auf diese Texte angewiesen ist.

Die Autorin ist politische Korrespondentin der taz. Foto: A. Loisier