: Bosnien ist in schlechter Verfassung
Zehn Jahre nach dem Friedensschluss von Dayton ist klar, dass Bosnien eine neue Verfassung braucht. Das jetzige Grundgesetz behindert auch die wirtschaftliche Entwicklung. Ein Modell könnte ein Zentralstaat auf der Grundlage von Kantonen sein
AUS SARAJEVOERICH RATHFELDER
Die wichtigsten Politiker Bosniens und Herzegowinas werden heute in Washington Farbe bekennen müssen. Denn die Vereinigten Staaten haben zu Gesprächen eingeladen. Heute, zehn Jahre nach dem von den USA vermittelten Friedensabkommen von Dayton, drängen die Amerikaner und Europäer auf grundlegende Reformen in dem Land, das wie kein anderes unter den Balkankriegen der Neunzigerjahre gelitten hat.
Als mit Dayton der verheerende Krieg beendet wurde, waren die Menschen in Bosnien und Herzegowina zwar froh. Doch heute ist bei allen Bevölkerungsgruppen ein mulmiges Gefühl aufgekommen. Denn das Abkommen hat einen sehr komplizierten Staat geschaffen. Zwar hat es mit Hilfe internationaler Organisationen bedeutende Fortschritte gegeben. Doch das ist nicht genug, um das Land in Europa neu zu positionieren. Ende des Jahres sollen Gespräche mit der EU beginnen.
„So, wie wir verfasst sind, kommen wir niemals in die EU.“ Srdjan Dizdarević ist wütend. Der Vorsitzende des Helsinki-Komitees für Menschenrechte deutet von seinem Fenster auf das Parlamentsgebäude in Sarajevo. „Wir haben ein Parlament eines schwachen Gesamtstaates, eine Regierung, die kaum was zu sagen hat. Wir besitzen eine Präsidentschaft, mit drei Präsidenten, aus jeder der konstitutiven Volksgruppen – also der Serben, Bosniaken und Kroaten. Wir haben eine zweite Kammer, in der je fünf Abgesandte der Volksgruppen sitzen und jede Entscheidung blockieren können.“
Er redet sich in Rage. Dazu kämen noch die Entitäten, also die „Republika Srpska“ und die „bosniakisch-kroatische Föderation“ mit ihren Regierungen, Ministern, Bürokratien, Armeen und Polizeien. Die Föderation bestehe aus zehn Kantonen, dem unabhängigen multinationalen Distrikt Brcko, mit Ministern und bürokratischen Apparaten. „Das ist die Hinterlassenschaft des Dayton-Abkommens.“ Dizdarević lacht. „Dazu kommen die internationalen Institutionen. Sie bestimmen bei allen politischen Entscheidungen mit. Vor allem der Hohe Repräsentant.“
Wie Dizdarević geht es vielen Bosniern. Sie wollen Veränderungen. Es grenzt an ein Wunder, dass unter diesen Umständen die Wirtschaft wächst, 2004 um 10 Prozent. Damit erreichte das Vier-Millionen-Einwohnerland den Spitzenplatz in Europa. „Von einem sehr niedrigen Niveau aus“, sagen Fachleute.
Doch immerhin passiere etwas in dem Land mit einer Arbeitslosigkeit von über 50 Prozent. Es gebe gut ausgebildete und willige Arbeitskräfte. Das Land sei bei Löhnen um 250 Euro interessant für Investoren und hätte mehr ausländisches Kapital angezogen, wäre nicht das administrative Kuddelmuddel.
Eine neue Verfassung muss her. Vorschläge gibt es genug. 1996 schlug der bosnisch-serbische Professor Miodrag Zivanović aus Banja Luka die Abschaffung der ethnisch definierten Entitäten vor. Ein funktionsfähiger Zentralstaat mit einem Parlament und einem Präsidenten sollte auf vier multinationalen Kantonen aufbauen, den historisch gewachsenen Regionen des Landes: Zentral-, West-, Ostbosnien und die Herzegowina.
Damals wurde Zivanović von Nationalisten aller Volksgruppen als Spinner abgetan. Denn die Dayton-Verfassung verschafft ihnen Macht und Pfründen. Heute kristallisiert sich dieser Vorschlag als mehrheitsfähig heraus und ist Grundlage für Vorschläge der Hays-Kommission (USA) oder der Venedig-Kommission (EU). Ideen von Bürgerbewegungen, Intellektuellen und nichtnationalistischen Parteien zielen auf einen Zentralstaat ohne Kantone. Nur die Gemeinden sollten finanziell und administrativ gestärkt werden.
In beiden Denkschulen gebe es keinen Platz mehr für die Entitäten. Das widerspricht vor allem den Interessen der serbischen nationalistischen Parteien. Sie wollen die Republika Srpska nicht aufgeben, während sich die kroatischen und bosniakischen Parteien mit dem Kantonsmodell anfreunden können.
Einen Kompromiss deutete Außenminister Mladen Ivanić gegenüber der taz an: Es sollte im Gesamtstaat nur einen Präsidenten geben, das Parlament des Gesamtstaates könnte gestärkt werden. „Für die Auflösung der Entitäten ist die Zeit noch nicht reif.“
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