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Archiv-Artikel

Das Kino als Kirche

SCHLAGLOCH VON KERSTIN DECKER Über den entschwindenden Papst, die Berlinale und das Heilige

Kerstin Decker

■ ist promovierte Philosophin und lebt als freie Autorin in Berlin. Kürzlich ist ihr neues Buch, „Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe“, im Propyläen Verlag erschienen (416 S., 19,99 Euro, als E-Book 16,99 Euro).

Seit einer Woche tritt der Papst zurück, und die Berlinale ist auch zu Ende. Man fühlt sich jedes Jahr etwas übrig geblieben nach dem Festival und fragt sich, wie es wohl den Regisseuren und Schauspielern gehen muss: zehn Tage lang getragen von einer Welle der kollektiven Aufmerksamkeit, nach oft jahrelanger Arbeit auf dieses eine Ziel, diesen einen Film zu, und dann wieder ausgesetzt auf dem eigenen Strand. Seelischer Aschermittwoch?

Für die Kirche hat die Fastenzeit begonnen. Fasten: Weltbezüge kappen. Immer kleiner werden. Es war der richtige Zeitpunkt für den Papst, aus der Welt zu verschwinden, er musste es während der Berlinale tun. Dies ist eine Kirche-und-Kino-Kolumne.

Aus der Welt sein? Wo genau wäre das? Auch will Joseph Ratzinger dort nicht allein hingehen. Die Kirche müsse ihren Weltabstand vergrößern, hat er gesagt. Es klang wie ein erstes Vermächtnis. Wo also wollen die hin? Das Kino ist in gewisser Weise ein Parallelphänomen, eine Kurzzeitentbindung von der Daueranwesenheitspflicht im Dasein, die man auch Leben nennt. Der Saal wird dunkel, die Welt wird weiter. Wie in der Religion, so auch im Kino. Natürlich ist ein Festival eine Art säkularer Gottesdienst, eine gesteigerte Form menschlicher Selbstbegegnung.

Nichts mit Turm

Religion und Kunst. Zwei Spiegelungsphänomene, zwei Selbstanschauungsweisen des Humanen. Die kurze Stille nach einem wirklich guten Film ist eine gemeinsame Stille, ein geteiltes, vielstimmiges Schweigen, ein gemeinsam gefüllter Raum: Manche nennen dieses Phänomen auch Kirche.

Kirche ist ihrem Elementarsinn nach nichts mit Turm. Nicht einmal Institution. Nur darum konnte Heiner Geißler in der letzten Woche bei Sandra Maischberger immer wieder rufen: „Ja, was glauben Sie denn, wenn Jesus heute da wäre?“ Keinen einzigen Kurienkardinal würde er übrig lassen, meinte Geißler. Und was sei mit den zwölf Aposteln, fragte listig der eingeladene Benedikt-Sachverständige. Aber so leicht ist Geißler nicht zu kriegen. Er fuhr den Kirchenmann mit genau gezielter Entrüstung an: „Sie wollen doch wohl die zwölf Apostel nicht mit der Kurie vergleichen?“

Warum eigentlich nicht? Argumentationen der Form „Wenn Jesus heute da wäre?“ gegen die Amtskirche zu richten, ist insofern schwierig, als wir Jesus ohne die Amtskirche gar nicht mehr kennen würden. In zweitausend Jahren wurden noch ganz andere vergessen als vorderasiatische Kleinsterlöser aus rückständigen Randzonen einer früheren Weltmacht. Und das war Jesus, bevor er zum welthistorischen Missverständnis höchster Ordnung aufstieg. Und doch kann man es nicht einfach aufklären, gar lösen, im Gegenteil. Darum reden alle, wenn von Religion und Kirche die Rede ist, gewöhnlich von etwas anderem, so auch bei Maischberger.

Die Grenze zwischen Ich und Du

Erinnert sich noch jemand an die Ansichten unseres Außenministers über „spätrömische Dekadenz“? Westerwelle zielte auf den Liegekomfort und die durchschnittliche Verweildauer der Benutzer sozialer Hängematten, aber das war Unfug. Das späte Rom sind wir, eine überdehnte, dekadente Hochzivilisation, die keinen rechten Halt mehr findet, schon gar nicht in sich selbst. Unsere Dauerkommunikation verbirgt das nur schlecht. Wahrscheinlich spüren das viele. Wenn man einmal erklären müsste, warum die Neukatholiken unter den obersten öffentlichen Meinungsmachern dieses Landes so auffällig zunehmen, so liegt es vielleicht daran. Wenn im Heute kein Halt mehr zu finden ist, dann vielleicht im Vorgestern?

Das Papsttum ist doch die einzige Institution, die vom ersten alten Rom in unser zweites reicht, eine leibhaftige Zeitenbrücke, gemacht aus allem, was in keiner Weise zusammengehört. Man nennt das auch Realgeschichte.

Was Kirche ist, die primäre, die unsichtbare, erklärt man sich besser aus dem Ewigkeitsaugenblick nach einem wirklich guten Berlinale-Film. Es ist ein Gemeinschaftserlebnis in höchster individueller Freiheit, also ein real existierendes Paradox. Es hebt, im Bewusstsein einer gemeinsamen Erfahrung, die Grenze zwischen Ich und Du auf, ohne sie doch anzutasten. Vielleicht kann der Mensch nichts Höheres erleben. Die einstmals gebräuchlichste, zeitgenössische Intelligenzen zunehmend in Verlegenheit setzende Vokabel dafür lautet: das Heilige. Das Heilige bezeichnet eine Einheitserfahrung ebenso wie die eines unendlichen Abstands.

Ein guter Festival-Film ist ein Gemeinschaftserlebnis in größter individueller Freiheit. Vielleicht gibt es nichts Höheres

Demut als Haltung

Es gibt Dinge, die versteht man entweder sofort oder tendenziell gar nicht. Jurypräsident Wong Kar-Wai hat auf die Kirchen-Dimension des Kinos von Anfang an hingewiesen. Mit Demut, schlug er vor, sollten wir die Filme sehen. Auch die Kritiker. Und Kritiker ist längst keine Sonderprofession mehr, der Kritiker ist der Zeitgenosse schlechthin: Richter über eine Welt, die er nicht geschaffen hat. Wong Kar-Wai forderte gewissermaßen eine Blickumkehrung: Aufwärts statt abwärts! Nach oben statt von oben herab! Daran, dass wir solche Worte wie Demut noch immer verstehen, lässt sich ablesen, dass wir mehr begreifen als wir denken können. Das ist gut. Demut ist die Haltung des Geschöpfs. Nur Geschöpfe bilden Kirchen, ob im Kino oder in Rom; Schöpfer brauchen keine.

Kirche. Ecclesia. Wer im Internet nachschaut, stößt unter dem Namen zuerst auf eine Versicherung, die Haftpflicht- und Unfallsammelverträge anbietet. Man versichere aber, verkündigt die „Herausgerufene“, auch „kirchenspezifische Risiken“. Was „kirchenspezifische Risiken“ sind, sagt die „Ecclesia“ nicht. Massenaustritt?

Bloß keine Häme! Die Internationale der „Burn-out“-Patienten weiß schon, dass man auch aus dem Dasein austreten kann, bei äußerlich aufrechterhaltener Vollmitgliedschaft. Es gibt noch andere Plätze als Arbeitsplätze, das ahnen jene genauso gut wie der Papst. Wir westlich zivilisierten Weltlinge haben kaum noch Sinn und Namen für solche Rückzugsräume. Was nicht mehr funktioniert, ist kaputt oder krank? Benedikt, der Gutsprechende, hat uns noch immer eine Alternative voraus. Er geht ins Kloster. Der kaputte Kritiker, der defekte Nichtdemütige lässt sich einweisen.