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Archiv-Artikel

Schuldenfrei in die Schweiz

RÜCKBLICK 2010 Das Jahr das wird, wird es in sich gehabt haben: Erfahren Sie exklusiv in taz bremen, welche frohen Botschaften es bereit hält – und welche Schnapsleichen

VON EIKEN BRUHN, ANNA GRAS, BENNO SCHIRRMEISTER, JAN ZIER UND FELIX ZIMMERMANN

Hält noch der Sylvesterkater das kleine Ländchen an der Weser im Bann? Oder wäre das schon der angekündigte Maximale Sparkurs? Nichts tut sich! Spart sich Bremen jede Regung? Aber da: Es kommt von Außen! Erstmals im neuen Jahrzehnt fällt der Name Bremen gut 700 Kilometer weiter südlich. Im Hegel-Saal der Liederhalle zu Stuttgart.

Am 6. Januar 2010 gibt dort FDP-Chef und Bundesaußenminister Guido Westerwelle den Ausschluss des Bremer Landesverbandes aus der Partei bekannt. „Die Ränder haben in der FDP nichts zu sagen“ erläutert er den einstimmigen Beschluss: „Was für eine gute Nachricht für unser Land.“ Gleichzeitig kündigt er an, sich „mit aller Macht dafür stark zu machen“, Bremen aus dem Länderfinanzausgleich auszuschließen. Das sei ein Zeichen „finanzpolitischer Vernunft“. Erfolglos bemühen sich bremischen Medien um Senats-Reaktionen auf diesen Vorstoß einzuholen. Ja sind denn alle abgetaucht?

12. Januar. Neujahrsempfang der Bürgerschaft. Jetzt aber! Oh, wie blöd. Wieder keiner da.Böhrnsen sei als Bundesratsvorsitzender in die Schweiz verreist, informiert Senatssprecher Hermann Kleen, „um dem dortigen Bundesrat einen Neujahrsgruß zu entbieten“. Und Linnert? Weilt in Kiew. Zusammen mit Rosenkötter, der Gesundheitssenatorin. Dienstlich, „es geht irgendwie um Impfstoff“, so Kleen. Bloß Christian Weber ist greifbar. „Ich halte das für unchristlich und auch traurig“, sagt der Bürgerschaftspräsident, indem er Oliver Möllenstädt zuprostet, „sehr sogar.“ Der stimmt zu, findet den Vorgang aber „halb so wild“. Schließlich habe er an der Supermarktkasse erfahren, „dass Frau Rosenkötter für mich das Amt eines Männerbeauftragten des Senats schaffen wird – von daher: für mich läuft alles bestens“.

13. Januar: Unter der Headline „Ein Mann für alle Männer“ reproduziert der Weser-Kurier einen Twitter-Dialog zwischen Chefredakteur Lars Haider und Möllenstädt, der darin seine Pläne als Männerbeauftragter erläutert. Prompt folgt ein Dementi. Zeitgleich smsen Rosenkötter und Linnert: „0 Männerb. geplant. Wenn, Möhle, nicht -nstädt.“ Für Erstaunen sorgt die Schlussfloskel „Gr aus Astana“, aber Kleen klärt auf: „Kasachstan ist auch so ’ne Etappe.“ Zuvor hätten die beiden schon in Georgien Station gemacht, es folge noch Usbekistan und Dingsbums. „Also soweit alles Klärchen“, so Kleen. Das Rätselraten um die Reise beendet er damit nicht: „FIES !!!!“, titelt Bild Bremen tags drauf: „Senatorinnen verbraten UNSER MÄNNERGELD für Wintermärchen an kaspischen Traumstränden.“

23. Januar. Bei der Eröffnung des größten Alpenfests nördlich der Donau tritt Jens Böhrnsen gemeinsam mit dem Schweizer Botschafter Christian Blickenstorfer erstmals in diesem Jahr in Bremen öffentlich auf. Anschließend begeben sich beide in eine „mindestens zehntägige Klausur“.

2. Februar In einer gemeinsamen Pressekonferenz geben Rosenkötter und Linnert an, den von Bremen im vergangenen Herbst erworbenen überschüssigen Impfstoff gegen die Neue Grippe weiterverkauft zu haben. „Nur in Turkmenistan war uns kein Erfolg beschieden“, so Rosenkötter, „wohl weil die Krankheit irreführend als Schweinegrippe bezeichnet wird und Land und Leute dort vor Ort stark muslimisch geprägt sind.“ Linnert legt Wert darauf, dass die Einnahmen durch Verkäufe die Reise-Kosten überstiegen.

23. Februar. Die Vollversammlung der Handelskammer bricht in Jubel aus, als Präses Lutz Peper ankündigt, im September einen reinen Auto-Tag für das gesamte Bremer Stadtgebiet abzuhalten. „Was dem grünen Senator Loske fürs Fußvolk recht ist, muss uns Autofahrern billig sein“, ruft er. Unter dem Motto „Vorfahrt fürs Vierrad“ sollen die Menschen aus ganz Norddeutschland Bremen endlich mal „nur von hinter der Windschutzscheibe aus erleben, da ist die Stadt am schönsten“. Per Akklamation wird Peper auf eine weitere Amtszeit als Präser verpflichtet und anschließend im offenen Cabrio, eskortiert von einem Porsche-Korso durch die Stadt kutschiert.

16. März. Was macht eigentlich Böhrnsen die ganze Zeit? Hier ist die Antwort: Zur Bürgerschaftssitzung legt die Senatskanzlei einen detaillierten „Entwurf für ein Gesetz zur Ermöglichung des gleichzeitigen Austritts aus der Bundesrepublik bei Eintritt in die eidgenössische Föderation der Schweiz“ vor. „Das war ein hartes Stück Arbeit“, so Böhrnsen. Zugleich erläutert er, dass die Schweizer Bundesverfassung in Artikel 1 um das Wort Bremen ergänzt, sowie in Artikel 72 Absatz 3 als Klausel a) die Worte „außer in Bremen“ eingefügt werden. „Ein Minarettverbot wird es bei uns nicht geben.“ Als Beitrittstermin sei der Nationalfeiertag vorgesehen. Die deutsche Bundesregierung habe klar gemacht, dass sie weder an Bremen noch an seriöser Politik interessiert sei, begründet er den Schritt. „Zudem haben sich auch die Affenversuche mit unserem Übertritt endgültig erledigt“. Die Tiere würden in die schon seit Februar geschlossene Botanika-Häuser umquartiert, „für Herrn Kreiter habe ich eine Stelle als Makaken-Zoo-Direktor eingerichtet“. Die Einrichtung werde künftig entsprechend in Makakika umbenannt.

1. April Nachdem die Redaktion von Center TV keinen ernsthaften Gesprächspartner für ihre Talksendung findet, lässt sie Oliver Möllenstädt auftreten. Der versucht mit markigen Worten die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken: „Was spricht denn dagegen, Alg II-Empfänger zur Sterilisation zu verpflichten?“ Er könne sich das gut als Bestandteil des Hartz IV-Bescheids vorstellen, „sonst rammeln die ständig bis zur Besinnungslosigkeit rum, um nachher Gebärprämien abzufassen, die sie in den nächsten Schnapsladen schaffen.“ Man müsse ja nicht künstlich die Verlierer der Gesellschaft vermehren. Vielmehr brauche die Gewinnertypen „so wie mich“. Sein Pech: Diese österliche Botschaft wird als Aprilscherz gewertet und versendet sich.

30. April Beim „Queerdance in den Mai“ findet ein großer Drag Queen-Contest statt. Mit überwältigender Mehrheit siegt Oliva Möllenstädt. „Es ist einfach schön, immer auf der Gewinnerseite zu sein“, freut er sich.

12. Mai Werder fährt als deutscher Fußballmeister nach Hamburg und en kassiert beim 4:1-Sieg im Euro-League Finale das erste Gegentor des Jahres. „Wir hadden den Dim Wiese auf unserer Lischde“, räumt Nationaltrainer Joachim Löw ein. „Leider hadder sich nun um seine Fahrkarde nach Südafrika gebracht.“

14. Mai Im Bürgerpark wird, unter einer Eiche in einem Erdloch stehend, ein fast gelbhaariger Mann aufgegriffen. Mit einem Spaten hat er sich tief ins Erdreich gebuddelt. Die Polizei hält ihn für einen verwirrten Vatertagsausflügler, aber Irrtum: Bei der Vernehmung entpuppt er sich als Beluga-Reeder Niels Stolberg. Er suche einen schnelleren Weg nach China, nachdem er mit einem seiner Schiffe bereits die Nord-Ost-Passage vom vormals ewigen Eis freigeräumt hatte. „Und: Im Tunnel gibt’s keine Piraten“. Auf die Frage nach der Baugenehmigung reagiert er schnippisch: „Der ganze Behördenkram, das dauert zu lange. Die werden schon springen, wenn ich pfeife.“

15. Juni. In der Stadtbürgerschaft verteidigt Innensenator Ulrich Mäurer mit Verve, dass er begonnen hat, sämtliche öffentlichen Bauten mit so genannten DNA-Duschen auszustatten. Das Geld dafür seien die verbliebenen Mittel aus dem Konjunkturpaket II-Programm, „dass wir solange wir noch zu Deutschland gehören schnellstens verbauen müssen“, so Mäurer – „und wie ginge das besser, als so?“ Überhaupt empfinde er die ganze Debatte als scheinheilig: „Wenn es herkömmliche Alarmanlagen wären, würde kein Hahn danach krähen.“

27. Juli. Bei der letzten Senatspressekonferenz vor dem Beitritt legt Finanzsenatorin Karoline Linnert die Halbjahrs-Bilanz vor: Dabei stellt sich heraus, dass der Grippe-Impfmittel-Deal im Januar, verbunden mit einem außerordentlich günstigen Wechselkurs abzüglich der Reisekosten zu einem „exorbitanten Gewinn von 23,84 Milliarden Schweizer Franken geführt“ hat. Damit ist Bremen „faktisch schuldenfrei“, wenn es der Schweiz beitritt.

28. Juli. Thomas Röwekamp regt eine Enquete-Kommission an: „Bloß Schulden zu tilgen – das ist doch langweilig!“, sagt er. „Ideen entwickeln, wie sich das Geld verpulvern lässt, das ist eine Aufgabe für ein Alle-Mann-Manöver.“ Unerwartete Zustimmung erhält er dafür von der Linksfraktion: „Alle-Frau-und-Mann-Manöver wäre mir zwar lieber“, sagt Monique Troedel, „aber die Richtung stimmt.“

1. August. Mit einem Großfeuerwerk begeht der neue Kanton seinen ersten Nationalfeiertag

8. August. Bei den ersten Kantonalwahlen wird die Landesregierung erdrutschartig bestätigt. Die FDP ist leider in der Kantonsversammlung nicht vertreten.

1. September. Möllenstädt hat sich vom Ausscheiden aus der Bürgerschaft schnell erholt – und eröffnet im Doventorsteinweg 53 den Laden „Tausend tolle Schnapsideen“: Er sei halt immer auf der Gewinnerseite, sagt er Radio Bremen. „Wir zielen vornehmlich auf ein männliches Publikum, dass sich bei uns auch echt als Mann fühlen kann.“ Deshalb gebe es auch einen Drive-In-Schalter.

5. September. Der erste reine „Auto-Tag“ in Bremen wird ein voller Erfolg: Sämtliche Wege sind für Fußgänger und Radfahrer gesperrt, nur per Auto darf man sich fortbewegen. Schon um halb zehn sind alle Straßen dicht, beim Geschicklichkeitsfahren durch Schnoor und Böttcherstraße bleiben 13 Roadster stecken, der Schaden geht in die Millionen. „Das ist gut für unsere Wirtschaft“, frohlockt Initiator Lutz Peper. Wenn Bremen dauerhaft so autofreundlich bleibe, sehen wir in eine große Zukunft, verkündet er am späten Nachmittag auf der völlig verrußten Martinistraße. Bloß Umweltsenator Reinhard Loske befinde sich „mit seiner rückwärtsgewandten Öko-Politik auf der völlig falschen Spur“.

6. September. Verflixte Axt! Ulrich Mäurers DNA-Duschen sind irgendwie falsch verdrahte: Die 31 installierten haben auf Dauerbetrieb geschaltet – darunter die im Polizeipräsidium, in 20 Schulen und im Rathaus. „Das Dumme ist“, so Mäurer verschmiert und zerknirscht, „sie haben natürlich keinen Aus-Knopf“. Zum Glück erledige sich das Problem mit der Zeit von selbst. „Die DNA-Kapazität reicht ungefähr für sechs Monate“, sagt Mäurer und verteilt die Schmiere mit dem Taschentuch auf der Glatze.

20. September. Stolberg hat eingesehen, dass er sich nicht selbst bis China graben kann, stattdessen stiftet er der Uni eine Professur für Handelstunnelforschung.

3. Oktober. Die Feierlichkeiten zu 20 Jahre deutscher Einheit entfallen: Das Bundespräsidialamt hat zu spät realisiert, dass Bremen als Austragungsort nicht in Frage kommt.

4. Oktober. Möllenstädts Schnapsladen läuft nicht so recht. Die angekündigte Eröffnung von fünf weiteren Filialen im gesamten Stadtgebiet „ist auf unbestimmte Zeit verschoben“, so der Inhaber. Unterstützung erhält er von Lutz Peper, der einen Rettungsschirm fordert: „Es ist mir unerträglich, dass hoffnungsvolle Unternehmen durch den zurückhaltenden Alkohol-Konsum in den Ruin getrieben werden“, sagt er. „Frau Linnert, ich appelliere an Sie: Wir brauchen die Absackprämie“

5. Oktober. Linnert weist Pepers Forderung brüsk zurück.

6. Oktober. Möllenstädt meldet Insolvenz an. Der Verwalter erklärt, dass „der Laden Tausend tolle Schnapsideen an der ungeeigneten Standortwahl und am Missgeschick, dass der Inhaber zugleich sein bester Kunde war, gescheitert ist.“

2. November. Die Makakika zieht eine überaus erfreuliche Zwischenbilanz: „Wir arbeiten hier sehr erfolgreich“, wundert sich Direktor Andreas Kreiter. Der Besucherzustrom übertreffe alle Erwartungen, „vor allem die Möglichkeit, sich selbst Elektroden ins Hirn einführen zu lassen ist nachgefragt“, die Einrichtung eines „Lies-Deine-Hirnströme“-Automats sei beantragt.

24. Dezember. Der Wetterbericht hat für die gesamte Schweiz starke Schneefälle prophezeit: Endlich geht Bremens Traum von der weißen Weihnacht in Erfüllung. Das ganze Land versinkt in einer weißen Decke, Friede, Harmonie und Stille. Nur im Doventorsteinweg 53 klirren Scherben: Eine Person ist ins Lager des „Tausend tolle Schnapsideen“-Laden eingedrungen und randaliert mit selbstgeleerten Flaschen. „Die Person hat ein auffällig rundes Gesicht ohne weitere Merkmale, sieht aus wie ein braver Bubi und führt keinerlei Ausweispapiere mit sich“, heißt es im Polizei-Bericht. „Im Vollrausch verkündet sie, dass sie als ewiger Sieger auch mal über die Stränge schlagen dürfe wenn die Frauen sie misshandeln würden. Außerdem gibt sie an, schwanger zu sein, was ein Bluttest bestätigt hat. Hinweise über Herkunft und Identität der fraglichen Person nimmt jede Polizeidienstelle entgegen.“