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Archiv-Artikel

Vom Schwinden der Sinne

Besuch bei der Körperhistorikerin Barbara Duden

VON GABRIELE GOETTLE

„Der handelnde Leib, seine Bewegungen und Rhythmen, seine Gesten und Kadenzen bilden das Zuhause, das mehr ist als Obdach, Zelt oder Haus.“ Ivan Illich

Barbara Duden, Prof. Dr. phil. am Institut f. Soziologie u. Sozialpsychologie d. Universität Hannover. 1948 Einschulung i. Neuhaus a. Schliersee, 1962 Abitur a. Helene Lange Gymnasium i. Frankfurt/Höchst. 1963–1970 Studium d. Geschichte u. Anglistik in Wien u. Berlin. Ab d. 70er-Jahren i. d. Frauenbewegung engagiert, 1976 Mitbegründerin d. Frauenzeitschrift „Courage“ i. Berlin. Begegnung m. d. Kultur- und Technologiekritiker Ivan Illich. 1986 Dissertation an d. TU Berlin. 1986–1990 Unterricht an verschiedenen amerikanischen Universitäten (Frauengeschichte, Wissenschafts- u. Technologiegeschichte), anschließend Tätigkeit am Institut f. Empirische Kulturwissenschaft in Hannover. 1993 Habilitation. Seit 1994 ordentliche Professorin in Hannover, ihr Lehrgebiet umfasst Kultursoziologie, Gesellschafts- und kulturhistorische Frauen- und Geschlechterforschung sowie Medizingeschichte. Sie ist als Körperhistorikerin zugleich auch Pionierin a. d. Gebiet d. Geschichte des Körpers und hat energisch dazu beigetragen, den Körper als wesentlichen Gegenstand d. Geschichtswissenschaft zu etablieren. Veröffentlichungen u. a.: „Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patienten um 1730“, Stuttgart 1987 u. 1991; „Anatomie der Guten Hoffnung. Zur Bildgeschichte des Ungeborenen“. Ffm., 2003. Auszeichnungen: Eileen Basker Memorial Award for Outstanding Research, American Anthropology Society (1993). Derzeit befasst sie sich mit Pierre Bourdieus „mitfühlendem Ohr und sozilogischem Sachverstand“, und mit einem Projekt zum Thema „Alltags-Gen“. Barbara Duden wurde 1942 in Greifswald geboren. Der Vater war Jurist, die Mutter Hausfrau und Übersetzerin. Sie ist ledig und hat keine Kinder.

Barbara Dudens Haus liegt in einer ruhigen Seitenstraße der Bremer Innenstadt. Es ist eines jener typischen alten Bremer Bürgerhäuser mit umzäuntem Vorgärtchen, Treppenaufgang, Windfang und schmaler, hoher Fassade. Aneinander gereiht dehnen sich diese Häuser nach hinten hin aus, wo jedes noch mal einen mehr oder weniger kleinen Garten hat. Barbaras winziger Garten ist ein liebevoll gehegtes, üppig zugewuchertes Paradies aus Sträuchern, Kräutern, Rosen und Gräsern. Und so wie der Garten ist auch das Haus: ein üppiges Paradies, von Vielfalt und Gastlichkeit erfüllt. Es hat ein Souterrain und zahlreiche Zimmer, von denen ein großer Teil auch dazu dient, Gäste zu beherbergen. Die offene Küche ist groß, in den Schubladen und Schränken befindet sich alles, um schnell ein Essen für mehrere Leute zu kochen. Im daneben liegenden Esszimmer steht ein umfangreicher Tisch mit Stühlen für zwölf Personen. Und auch der Livingroom, mit Wintergarten zur Straße hin, wartet mit Sesseln, Stühlen und gepolsterten Liegen auf gut gelaunte Gäste, die Platz nehmen und sich wohl fühlen, wie wir. Diese ungewöhnliche Gastfreundschaft ist sozusagen eine Herzensangelegenheit von Barbara Duden, die sich damit leistet, was viele sich leisten könnten. Aber irgendwie herrscht vermutlich eine Art Xenophobie vor, selbst Freunden gegenüber. Ivan Illich, der hier bis zu seinem Tod im Dezember 2002 lebte, sprach von der „Aura der Duden’schen Gastfreundschaft“, die man auch noch weit jenseits der Schwelle des Hauses spüre. Hier wurde jahrelang mit Freunden, Schülern und Fremden, aus Europa, Amerika und Lateinamerika, gemeinsam gegessen, diskutiert und nachgedacht. Nach Illichs Tod ist es etwas ruhiger geworden. Aber als wir eintreffen, ist das Haus voll mit Israelis und Palästinensern, Schauspieler, die zusammen mit Schauspielern der Bremer Shakespeare Company ihr Stück „Tower of Babylon“ aufführen.

Wir sitzen im Wintergarten, trinken Tee, Barbara Duden erzählt und raucht: „Ein wichtiger Anstoß für mein Interesse an der Geschichte des Körpers war die Erkenntnis, dass die Geschichtslosigkeit der Frau damit zu tun hat, dass sie durch ihre körperliche Konstitution festgelegt ist. Und deshalb haben wir damals, als frauenbewegte Frauen, angefangen, über Körper zu arbeiten, denn wir sagten, die Geschichte der Frauen beginnt mit ihrer Körperlichkeit. Und da aber erst mal als Ideologie von Biologie, als soziale Klassifikation. Damit hat sich beispielsweise Claudia Honneger damals ausführlich beschäftigt, mit der Medizin im 19. Jahrhundert. Ich wollte noch weiter zurückgehen, in die Zeit vor 1800, denn 1800 ist ja die große Wasserscheide, der Umbruch in die bürgerliche Gesellschaft, in die Industriegesellschaft, bei dem sich sozusagen die Tiefenschichten der Gesellschaft verändert haben. Die Wahrnehmung, die Begrifflichkeit, das Weltbild, die Objekte, alles! Und ich bin dann auf diese ‚Observationes clinicae‘, also auf ärztliche Krankengeschichten gestoßen, die der Stadtarzt Johannes Pelargus Storch Mitte des 18. Jahrhunderts in der protestantischen Residenzstadt Eisenach verfasst hat. Er hat Frauen aller Stände behandelt, adelige Fräuleins, Handwerkerfrauen, Ammen, Bauernmädchen, und acht Bände darüber angelegt, er hat auch Kinder und Soldaten behandelt, ich habe mich aber ausschließlich auf die Frauen konzentriert.

Anfangs war mir das, was ich da las, vollkommen unverständlich. Es schien unmöglich, das Körpererlebnis von Frauen im 18. Jahrhundert erforschbar und erfahrbar zu machen. Das war mir alles total fremd, worüber diese Frauen klagten, unklar, was sie meinten, wenn sie von Geblüt und Frucht, offenen Füßen und Kälte, von Fluss und Stockung gesprochen haben. Die Frauen klagten vor dem Medicus über ihre Herzenserschütterung, den Riss am Herzen, die Kälte der Gebärmutter, die Verstocktheit im Bauch. Das liest sich beispielsweise so oder ähnlich: ‚Am 12. April 1725 kam eine sanguinisch-cholerische Frau zu mir und klagete, wes Maßen sie mit ihrem Miethmanne sich verstritten habe, er sie nicht anhören wollte, an den Armen packte und zur Tür hinausschickte. Nun klaget sie, dass sie dieses Gift seit Jahren nicht aussschütten kann und ihr deshalb Rhabarber gegeben werden soll, um es wieder loszuwerden.‘ Also, dass diese Frau zu ihrem Arzt kommt, und sozusagen über die geschwollene Wut klagt, die ihr seit der Unverschämtheit des Miethmannes (eines Mieters, Anm. GG) wie ein Knoten im Bauche sitzt, und dass diese Wahrnehmung sie sowohl zum Arzt als auch zum Rhabarber führt, würde sie 100 Jahre später zum Irrenarzt führen. Die körperliche Reaktion wäre etwas Uneigentliches. Also, die Aufzeichnungen über diese 1.600 einzelnen Frauen war für mich lebensprägend! Das Befremden zuallererst, zu dem sie mich gezwungen haben.Wie haben sich in diesen Frauen soziale Klassen, Alter, Religion verkörpert? Wie Krankheit? Was macht sie mir derart fremd? Was ist es genau, was mich an der Empathie mit ihren Klagen hindert?

Ihre Wahrnehmungen von sich waren unvergleichbar mit denen, wie ich selbst mich wahrnehme. Aber ich wollte unbedingt verstehen, wovon sie eigentlich reden. Wie war die Selbstwahrnehmung ihres Innern?

Der Versuch, zu verstehen, wie Frauen sich um 1720 gefühlt haben, hat mir ein neues Gefühl für die Historizität meines eigenen körperlichen ‚Selbst-Gefühls‘ vermittelt. Und aus dieser Distanz heraus war es möglich, die intellektuellen Einsichten in eine soziologische Analyse der technikbedingten epochalen Um- und Neudefinition des Frauenkörpers, besonders auch in der Gegenwart, zu erarbeiten. Beim Versuch herauszufinden, was das für eine Wahrnehmung des Inneren bei diesen Frauen des 18. Jahrhunderts war, habe ich akribisch mit so einer … ich nenne es Beutelmethode gearbeitet. Also: ein Beutel fürs Zittern, Beutel fürs Blut – fürs verstockte und fürs fließende Blut –, einen für die Mischung usw. Und dann habe ich versucht, die ‚Sinnknoten‘ dieser anderen Wahrnehmung von sich mal auszulegen. Sofort habe ich festgestellt, dass das absolutes Neuland ist, kein Mensch hat so was gemacht vorher. Weil eben der Körper und die Biologie des 19. und 20. Jahrhunderts den Anschein vermitteln, als wenn es sich hier um etwas Naturhaftes handelt. Das haben die Historikerinnen und Historiker eben auch unter der Haut. Und wenn sie auf solche Reden stießen, wie von der Frau mit der Wut über den Miethmann, dann taten sie das als ‚uneigentliche Rede‘ ab von Leuten, die abergläubisch sind und eben noch nicht wissen, wie ihr Körper beschaffen ist. Das ist natürlich fahrlässig, denn die Frau weiß sehr wohl, dass die ‚Bitterkeit der Worte‘ und das ‚Gift‘, das sie ‚geschluckt hat‘ dabei, etwas Entscheidendes mit ihr macht. Und dann habe ich versucht, diesen Körper beziehungsweise eben nicht diesen Körper – heute würde ich das Wort nicht mehr benutzen –, sondern die Somatik, ihre erlebte Somatik zu verstehen.

Was sich natürlich aufdrängte, war, dass dieses somatische Innere, in diesem Sinne, gar nicht in einem anatomischen Atlas festgelegt ist, also z. B. beim ‚Herzriss‘ aus Liebesleid. Besonders auch beim Blut, denn das Blut, von dem sie sprechen, ist ein Stoff, den du nicht ins Labor schicken könntest. Es ist etwas Lebendiges. Selbst in der ärztlichen Fachpresse gab es diesen Unterschied und somit diese Auffassung. Einmal bezeichnete das Wort Sanguis das ‚lebendige Blut‘, und Cruor hieß der Stoff, der ausgelassen wird beim Aderlass und sich klumpt. Also, Sanguis läuft zwar auch aus, bei Verletzungen usw., aber solange es läuft, ist es ‚lebendig‘. Also, das Herz, das wissenschaftsgeschichtlich dann ganz technisch in seinen Funktionen festgelegt wurde, ist hier noch Empfindungsecho, das auf Erfahrungen und Eindrücke reagiert. Und auch das Blut ist ein Stoff innerer Wahrnehmung, in dem sich sehr viele Qualitäten ausdrücken. Zuerst mal ist es innerlich lebendig, es will wohin. Es ist regsam, oder es stockt. Das ist eines der wichtigsten Motive, diese Balance zwischen Regsamkeit und Stockung. Es ist die Balance zwischen Gesundheit und Krankheit und letztlich dem Tod, dem Sterben, die in Bilder der Hemmung, Verstockung und Versteinerung gekleidet wird. Und dann hat das Blut auch geschmackliche Qualitäten, das reicht vom Süßen bis zum Bitteren. Und farblich vom Dunklen bis zum Hellen. Und natürlich wird unterschieden zwischen Blut und Geblüth.

Also, sie berichten über all diese inneren Wahrnehmungen, und der Stoff dieser Wahrnehmungen ist mir zutiefst fremd, fremd deshalb, weil ich in mir kein Geblüth habe, sozusagen. Ich erkannte, durch die zunehmende Vertrautheit mit der Fremdheit dieser Selbstwahrnehmung der Frauen, dass die Wahrnehmungsgeschichte eigentlich in eine Wissenschaftsgeschichte eingebracht werden muss. Nur so können wir verstehen, dass die Wissenschaftsgeschichte uns konditioniert hat, etwas für ‚wahr‘ zu halten, also etwas zum Stoff unserer ‚Wahrnehmung‘ zu machen, was gar nicht ‚wahrgenommen‘ werden kann, weil es eben objektivierende Tatsachen sind, die durch die Wissenschaftsgeschichte und durch die Popularisierung, in den ‚Körper‘, also in das Innere, reinverlegt wurden. Die Not ist, dass die Biologie des 19. Jahrhundert – also das, was Foucault untersucht hat als einen Effekt des klinischen Blicks – im Endeffekt bewirkt, dass wir dieses Objekt, das sie uns als unseren ‚Körper‘ vorexerziert, für Natur, für die Natur unseres Körpers halten. Die Biologie erscheint als Natur. Aber es gibt ja keine Natur in dem Sinne, die Natur selber ist historisch. Und in dem Moment, wo man das feststellt und sich vergegenwärtigt, dass die Medizin erst im 19. Jahrhundert zu einer Instanz wurde, die epistemologisch und institutionell nun die Macht hatte, die Gesellschaft mit einem ‚Körper‘ zu beliefern, muss man sich fragen: Was sind eigentlich die sozialen Instanzen, aus denen die körperliche Wahrnehmung entsteht?

Das führt natürlich auch zur Frage nach Schichten der Gewalt, in der Re-Definition der Person in Bezug auf ihren Körper. Ich meine, dass hier auch eine Kritik an Foucault notwendig ist, weil er nämlich, in Bezug auf die Gewaltsamkeit der Re-Definition zwar die Machthierarchien der Medizin über den Kranken ausführlich untersucht hat, er hat aber nicht verstanden, dass das, was das Leibliche tut und macht, durch eine fremde Instanz definiert wird. Das Körperliche im 17. und 18. Jahrhundert aber tat etwas, wofür es noch keine zentrale Instanz gab, die dem Menschen sagte: Das bist du! Das ist dein Körper. Den kannst du als ein Objekt zur Medizin tragen, und sie geben ihn dir zurück als ein Objekt, das du dir wieder aneignen kannst als Besitz. Ein solcher Körper war einfach unvorstellbar.

Die Somatik ist noch eingesponnen im Gewebe der Kultur, also in den sozialen Erfahrungen, in den Alltagspraktiken. Dadurch entfaltet sie sich, erwächst und ist stimmig. Wir müssen natürlich beachten, das ist die Somatik, das Körperliche in der Geschichte des Westens, das ist nicht global. Und bei uns hat die Medizin den Körper immer mehr von uns isoliert, die Organe isoliert voneinander, die Funktionen … und es kam der Anatomische Atlas, die Physiologie als Leitwissenschaft, und es ging immer tiefer ins Gewebe, in die Zellen, in die Zellkerne usw. In eine Unterteilung in immer kleinere Einheiten. Man kann sagen, dass die Medizin also nicht einen Körper behandelt – im Wort-Sinne –, sondern einen Körper herstellt. Und das Interessante ist, dass dieser Körper, den die Medizin herstellt – Foucault würde sagen, der Körper als Effekt aus Beobachtungen, Praktiken, technischer Herstellung –, der verdankt sich nicht einer Vielzahl von Entdeckungen, sondern einer Vielzahl von Effekten dieser Beobachtungspraxis und deren Zuschreibung.

Es ist unzweifelhaft, dass da etwas auf der Strecke bleibt, dass das eine Veränderung im Selbstbewusstsein anrichtet, einen Bruch in das Innere hineingibt. Man könnte das mit dem Begriff der ‚Schizo-aisthesis‘ fassen, also der Trennung von der sinnengeleiteten Empfindung, und zwar nicht im Kopf, sondern im Fleisch. Als Kind hast du noch gehört vom reinen Herzen, vom guten Herzen, in dem sich was regt zu Gunsten anderer, das groß sein soll usw. Dann hast du aber gelernt, dass du ein Herz verkörperst, das empfindungsunfähig ist, das nur ein Organ ist zur Umwälzung des Blutes, das einen bestimmten, messbaren Schlag hat usw. Also, dieses anatomische Herz ist ja dumm, es erkennt nichts und tut nur seinen Dienst, bestenfalls. Also ich kann von mir selber nur sagen, dass ich eine ‚herzliche Wahrnehmung‘ sehr wohl kenne und spüren kann, dass damit durchaus etwas Somatisches verbunden ist, wenn ich etwas im ‚Herzen verspüre‘, ein Sehnen, ein Lieben, einen Trennungsschmerz. Also Empfindungen oder Schmerzen, die keinen Platz haben in einem anatomischen Herzen, die aber unzweifelhaft real und wahr sind. Du kannst natürlich sagen, dass das die Tiefenschicht eines Erfahrungsstoffes ist, in dem die Umgangssprache nach wie vor ein Bild transportiert, das sofort zu uneigentlicher Rede, zu poetischer Rede wird, in dem die somatischen Anteile aber irgendwie immer noch da sind. Wesentlich ist aber der Bruch, der in unsere Wahrnehmung hineingesenkt wurde, nämlich zwischen etwas, was du wahrnehmend ‚weißt‘ – sonst könnten wir niemanden lieb haben oder auch hassen –, und dem, was du auf der anderen Seite zu verkörpern hast, für wahr halten musst, weil die Gültigkeit dieser Wahrheit nicht bezweifelt werden kann. So dass du eigentlich gezwungen bist, in dir zu sein und andererseits dich selber dauernd wahrzunehmen, als wenn du außer dir bist. Erfahrungen, die dieses selbst wahrnehmende Ich mal gemacht hat, sind kaum noch nachvollziehbar, wir wissen nicht mehr, wie sich das anfühlt, wenn der Körper noch nicht abgespalten ist.

Man kann sagen, das ist die große Geschichte der Entkörperung des Menschen, weil sie durch die Macht der Wissenschaft – also durch das, was die Wissenschaft ihnen als ihren Körper gegenüberstellt und zur Verinnerlichung anbietet – ihren eigenen Sinnen nicht mehr trauen können. Und es kam ja noch schlimmer, wir sprechen jetzt immer von einer Zeit, in der noch die Pathologie das Butterbrot der Medizin war, wer krank wurde, ließ seinen Körper behandeln. Und da hat die Medizin des 20. Jahrhunderts ja manches … gut, man ist hingegangen, weil einem was fehlte. Heute gehen die Leute hin, weil sie Angst haben, es könnte ihnen zukünftig etwas passieren. Ich finde es sehr wichtig, hier klar zu machen, dass dieser Körper, den Foucault beschrieben hat in den 60er-Jahren, also der medikalisierte Körper und der dazugehörige klinische Blick, dass der seit den 70er-Jahren eigentlich verblasst oder nur noch den Hintergrund bildet, für eine viel grundsätzlichere Erfassung: die durch ein umfassendes Gesundheitssystems. Die Medizin ist nun als eine Instanz zuständig, und zwar ununterbrochen. Der Unterschied zwischen gesund und krank ist abgeschliffen, das Somatische interessiert nicht. Die Gesundheitswissenschaft, die ja auf Statistik basiert – statistische Epidemologie ist zur Leitwissenschaft aufgestiegen –, errechnet Krankheit. Die Medizin behandelt nicht mehr, sie sagt voraus. Du wirst nicht im Körperlichen wahrgenommen, sondern als statistischer Fall innerhalb einer statistischen Population. Sicher, diese Vorsorgeorgien sind unter der Perspektive der Gesundheitsverwaltung ökonomisch rational, für die einzelne Person aber ist das total irrational. Und es ist zutiefst beunruhigend und bedrohlich, weil die Menschen lernen sollen, dass ihnen schon was fehlt oder als ‚krank‘ bereits angelegt ist, als Gendefekt, was sich später dann zeigen könnte. Du erfährst, du gehörst irgendeiner Gruppe an und trägst deshalb ein erhöhtes Risiko, statistisch errechnet. Und in vorauseilendem Gehorsam sollst du dieses, ‚dein‘ Risiko, verantwortlich ‚managen‘, um es zu minimieren. Es entsteht ein ununterbrochener schleichender Verdacht gegen dich selbst. Da wird jeder zum Hypochonder. Unkontrolliertes Wohlbefinden wirkt leichtfertig, geradezu asozial. So kommt der Wurm ans Wohlbefinden!

Also, Prävention in Bezug auf Fette, Herzkreislaufgeschichten, Osteoporose, Brust- und Prostatakarzinom usw. ist heute gängig und gesellschaftlich vollkommen akzeptiert. Interessant ist, dass es der Frauenkörper war, der als Symbol diente – oder besser gesagt, als trojanisches Pferd –, um das sozial akzeptabel zu machen. Sie haben die Notwendigkeit dieser erforderlichen Selbstverwandlung als Erste vollzogen. Die Durchsetzung des Risikobegriffs in die Praxis gesundheitlicher Vorsorge wurde an Frauen durchexerziert, in den vergangenen 30 Jahren. Zuerst in der Geburt, historisch gesehen. Mitte der 60er-Jahre schon wurde der Mutterpass eingeführt, also etwas vollkommen Wahnsinniges! Weil die Frauen das ablehnten, hat es Geld gegeben, aber nur, weil die Frauen das volle Programm durchliefen und das per Pass nachweisen konnten. In den 70er-Jahren kam dann die Hormonsteuerung, die Pille für die Empfängnisverhütung und dann die Hormonsteuerung im Alter. Heute kann eine Schwangerschaft nur noch durchlaufen werden, wenn ununterbrochen Checks durchgeführt werden. 50 bis 60 Momente müssen dauernd überprüft werden, das sind die Indikatoren, die dann eine ‚Normalität‘ herstellen. Moderne bildgebende Verfahren der Visualisierungstechnologie zeigen der Schwangeren ihr Ungeborenes, in scheinbar getreuer Abbildung, ein Kind, transformiert in eine Datenmasse, die beliebig zerlegbar ist. Wie kann sie diese Datenmasse lieb haben, erwarten, noch guter Hoffnung sein? Die Frau betrachtet es aber als ihr Kind und hat sich zur Managerin ihrer Schwangerschaft machen lassen, die mit selektierendem Blick aufs genetische Risiko achtet und es gegebenenfalls durch Abbruch vermeidet. Das ist soziale Pflicht. Und auf diese Schwangerschaft folgt dann die durchprogrammierte Geburt. Im Supermarkt der Entbindungen kann die Frau, selbstbestimmt und frei, wählen, wann sie entbindet und wie, bis hin zur Wunschsektio, zum Kaiserschnitt. Die Frau muss nicht mehr entbinden, sie darf sich als mündige, kundige Klientin fühlen, die eine technische Dienstleistung in Anspruch nimmt. Die Frauen bemerken nicht, dass sie in der Tiefe ohnmächtig wurden, wirklich ‚ohn-mächtig‘. Sie wurden regelrecht konditioniert, diese kontinuierliche Einsichtnahme, Kontrolle und Überwachung als ihr Bedürfnis zu empfinden.

Das ist eine schreckliche Veränderung in der Selbstwahrnehmung, und erschreckend ist auch, dass es da einen völligen historischen Widerspruch gibt zu dem, was die Frauenbewegung einmal mit Selbstbestimmung meinte. Der große Gegner war die Gynäkologie natürlich. Sich den eigenen Körper wieder anzueignen, das war es, was die Frauen sozusagen auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Heute steht die Forderung, dass Frauen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung ausüben sollen, auf den Fahnen aller Krankenkassen, Ärzte und Gesundheitsbürokraten. Es ist eine Pflicht! Damals in den 70er-Jahren hat die Frauenbewegung sich ein Recht erkämpfen wollen und das Spekulum selbst in die Hand genommen. Die Selbstuntersuchung und die Selbstsuche, das waren wichtige Schritte, und viele Frauen haben diesen Weg angetreten, du hast das ja damals kritisiert, Gabriele, auch diese ganzen gängigen Begrifflichkeiten. Im Rückblick war dieses consciousnessracing im Grunde eine Professionalisierung für das, was in der Gesellschaft sowieso als Zumutung auf einen zukommt. Es hat ja in den 70er-Jahren eine Veränderung auch in der Machttechnologie gegeben, es wurde nicht mehr gezwungen, sondern es ging um die Lenkung und Ausrichtung des Wollens. Die Leute haben gelernt, dadurch, dass sie sich das ‚eingekörpert‘ haben, dass sie das wollen, was sie sollen. Das Abverlangte sollte nicht mehr als solches kenntlich sein, sondern Teil des eigenen Wollens werden. Der wichtigste Begriff der Frauenbewegung war ja Selbstbestimmung – hier jetzt speziell auf den eigenen Körper bezogen –; und heute heißt Selbstbestimmung sozusagen Selbststeuerung, die Frauen haben gelernt – und nicht nur die Frauen – sich selbst so zu steuern, dass es fürs System kompatibel ist.

Und das ist wahnsinnig beunruhigend, diese Überschneidung und die Paradoxie zwischen etwas, was wir wollen konnten – auch vernünftigerweise – und was aber zugleich auch dem in die Hände gespielt hat, was historisch im Werden war. Das beschäftigt mich immer sehr, muss ich sagen …“ Draußen ertönt nicht enden wollend eine Warnanlage. „… Ja, und was wir versuchen können, ist, mit Hilfe der Geschichtswissenschaft die Amplituden des Wahrnehmbaren in der Gegenwart ein bisschen zu weiten und offen zu halten.“

Nebenan entbrennt ein heftiger Streit zwischen den Schauspielern, ein Palästinenser weigert sich, abends aufzutreten. Sein Fluggepäck ist versehentlich auf irgendeinem Flughafen in Asien gelandet, und im Koffer befinden sich Sufi-Rock und Hut. Beides, so sagt er, braucht er unbedingt für seinen Sufi-Tanz. Alle Einwände, es ginge doch auch mit einer provisorischen Kostümierung für dieses eine Mal, werden von ihm erbittert zurückgewiesen. Er erklärt, weshalb kein Sufi-Tanz möglich ist ohne die ungeheuren Stoffmengen des Rockes, die sich in die Luft erheben und mitkreisen müssen, erntet aber nur gereizte Kommentare. Wir schließen die Tür zum Wintergarten, Barbara zündet sich eine Zigarette an und wir bitten sie, uns abschließend noch ein bisschen was aus ihrer Kindheit zu erzählen.

Sie denkt lange nach und beginnt dann etwas zögernd: „Also, ich bin aufgewachsen im Haus des Großvaters am Schliersee in Oberbayern. Nach dem Krieg arbeitete mein Vater in Düsseldorf als Jurist, und meine Mutter hat als Übersetzerin für die Amerikaner bei Mercedes-Benz gearbeitet. Wir waren vier Kinder, meine zwei Brüder sind ins Internat gekommen – sie sind vier und fünf Jahre älter –, und wir Zwillinge, meine Schwester und ich, sind beim Großvater deponiert worden. Die Familie ist dann erst Mitte der 50er-Jahre wieder zusammengekommen. Mein Vater war Nazi und war nach dem Krieg in einem Lager, er hatte zwei Jahre Berufsverbot. Er war Leiter gewesen in einer Benzinfabrik in Stettin. Ja, nicht so schön … meine Mutter war gegen die Nazis, aber aus den falschen Gründen … Also, ich hatte ja immer ein bisschen Sorge, davon etwas zu sagen, da hat mich Ivan aber dann überzeugt, also als Halbjude, dass es wichtig ist, das zu erzählen. Mein Großvater, bei dem wir also aufwuchsen, war Witwer und Pensionär, er war bei der I.G. Farben gewesen, im Aufsichtsrat, aber noch vor den Nazis. Er hatte eine Hausdame und wir hatten eine Kinderschwester aus Polen, aus Stettin, also, sie war mitgegangen auf die Flucht. Und die hat uns da erzogen, meine Schwester und mich. Meine Schwester habe ich sehr geliebt. Sie war in vielem schwächer als ich, ihr einer Arm, der hatte so eine schlaffe Lähmung, sie hatte auch ein kürzeres Bein, hinkte so ein bisschen, und sie hatte epileptische Anfälle. Und in der Kindheit hieß es immer, dort in Köln, da gibt es einen Arzt und der wird das alles reparieren können, aber dazu muss sie erwachsen sein, also so, dass der Kopf nicht mehr wächst. Dadurch war es für sie eine Kindheit ohne diagnostischen Rahmen, also, das war ein Geschenk!

Dabei waren ihre epileptischen Anfälle schwer und dramatisch, wir nannten das Krampfanfälle. Nachher ging’s ihr immer sehr viel besser, zum Glück. Das hatte sie alle drei bis vier Monate. Meine Schwester war unglaublich witzig, sie war stark und lebenslustig, und sie war ausgesprochen komisch begabt, konnte sehr komische Geschichten erzählen, einfach so aus dem Stegreif. Wir haben alles geteilt, das Zimmer, das Bett, wir trugen die gleichen Kleider und waren eigentlich immer zusammen. Weil sie nicht auf die Höhere Schule konnte, bin ich, um bei ihr zu sein, noch längere Zeit in der Volksschule mit ihr geblieben, dann bekam sie eine Hauslehrerin. Wir haben gelebt wie eben richtige Zwillinge, richtig das Alter Ego. Das war Alexa. Wir hatten eine schöne, komische Kindheit zusammen. Als sie 14 war, ist meine Mutter mit ihr in die neurologische Klinik gegangen in Heidelberg, um sie untersuchen zu lassen. Und der Arzt hat dann … der Arzt hat dann gesagt, wenn sie durch die Pubertät durch ist, dann würde sie fresssüchtig werden und dick, und dann würde sie völlig verblöden, würde zurückfallen auf den Stand einer Zweijährigen. Und das Diktum, also dieses Verdikt und diese Vorhersage … das kriegst du nie wieder weg. Es war dann so, dass, wenn Alexa sich beispielsweise noch mal Kartoffeln genommen hat, sich jeder dachte: Um Gottes willen, jetzt geht’s los! Jetzt wird sie fresssüchtig, jetzt verblödet sie. Ich habe damals in der Tiefe verstanden, was das bedeutet: die Verwandlung des Liebsten in eine diagnostische Klasse, was das bewirkt. Normalerweise erscheint ja die Gewalt der professionellen Setzungen wie ein Sachzwang und ist deshalb in ihrer Gewaltförmigkeit nicht unmittelbar spürbar. Nur wenn’s jetzt zufällig das Alter Ego ist, dann siehst du plötzlich, dass sie es dir selber antun. Und ich glaube, das war für mich wirklich wichtig. Meine Schwester ist mit 15 Jahren verunglückt, sie war mit dem Rad unterwegs und hatte den Hund an der Leine. Sie ist gestürzt und wurde von einem Lastwagen überfahren.“