: Agonie 2010: Schlägt die Krise jetzt im neuen Jahr voll durch?
PRO
STEPHAN KOSCH ist taz-Redakteur und koordinierte 2009 die Berichterstattung über die Finanzkrise.
Das große Beben der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ist schon über ein Jahr her, doch die letzte Welle der Erschütterungen steht uns noch bevor. Wenn 2010 die Kurzarbeiterregelungen auslaufen, werden die Arbeitslosenzahlen steigen. Wohl nicht so hoch, wie befürchtet – aber das ändert nichts daran, dass 2010 die Krise in Deutschland zu hunderttausenden zusätzlichen Arbeitslosen führen wird.
Doch auch mit diesem Nachbeben wird die Krise noch nicht überstanden sein. Denn der sich abzeichnende – noch immer schwache – Aufschwung der Wirtschaft, in dessen Erwartung auch die Börsenkurse wieder nach oben schossen, ist nur geborgt. Er fußt auf staatlichen Konjunkturprogrammen und nährt sich vom billigen Geld, das die Zentralbanken nach wie vor fast kostenlos auf den Markt werfen.
Diese beiden Aufputschmittel stehen bald nicht mehr zu Verfügung. Die Regierungen müssen ihre Haushalte in den Griff bekommen, die Zentralbanken die Inflationsgefahr. Das wird die Euphorie an den Börsen wieder dämpfen, Kredite teurer machen und die Unternehmen, die sowieso schon über restriktive Vergabepraxis der Banken beim Geldverleih klagen, erneut in Schwierigkeiten bringen.
Anstatt das Geld der Realwirtschaft zur Verfügung zu stellen, nutzen die Banken nämlich die von den nationalen Instituten bereitgestellten Summen gegenwärtig, um an den Börsen zu zocken. Gold, Rohstoffe, Immobilien – an vielen Stellen sind schon wieder neue Blasen entstanden, die 2010 platzen könnten. Selbst das Geschäft mit Kreditverbriefungen – einer der Auslöser der Finanzkrise – ist längst wieder angelaufen. Und eine krisenfestere Weltwirtschaftsordnung existiert bislang nur als Absichtserklärung in den Kommuniqués der G-20-Gipfel.
Die Staats- und Regierungschefs haben sich vor der Systemfrage gedrückt. Sie haben nicht dafür gesorgt, dass der von ihnen gerettete Patient nach dem Herzinfarkt unter strenger Kontrolle leben muss. Stattdessen hat er sich von den Schläuchen losgerissen und jagt wieder nach höchstmöglicher Rendite. Der nächste Infarkt wird kommen – schon bald.
CONTRA
DIRK KNIPPHALS ist Literaturredakteur der taz.
Nein, die Krise wird nicht voll durchschlagen – jedenfalls keinesfalls so, wie sich das viele Menschen vorstellen. Auf der Ebene des Bewusstseins und der Mentalitäten wird sie nicht die katastrophalen Auswirkungen haben, die derzeit prognostiziert werden. Es wird keine Armutsaufstände geben. Die Gesellschaft wird nicht auseinander brechen. Und die Bevölkerung wird auch nicht in Apathie und Depression versinken, wie sich das nicht nur der Soziologe Wilhelm Heitmeyer derzeit medienwirksam ausmalt.
All diese Szenarios verdanken sich einer überholten Sichtweise, die Wirtschaftskrisen immer noch nach dem Modell der schlesischen Weber im 19. Jahrhundert begreift: mit kollektiver Verelendung und sich daran anschließenden Barrikadenkämpfen. Inzwischen ist aber die gesellschaftliche Ausdifferenzierung vorangeschritten. Die hat den Nachteil, dass immer mal wieder einzelne Bereiche der Gesellschaft (diesmal der Finanzbereich) in krisenhafte Situationen geraten. Aber auch den Vorteil, dass dann andere Bereiche (diesmal der Staat) damit nicht gleich handlungsunfähig werden. Und was in den Szenarios vor allem übergangen wird, ist, dass die Mitglieder der Gesellschaft auf solche Krisen inzwischen individueller denn je reagieren können – aber auch müssen.
Wer will, kann sich jederzeit besser funktionierende Gesellschaften ausdenken. Genau von diesem Engagement und diesem ständigen Optimierungswillen lebt schließlich das ganze moderne Wirtschaftssystem. Wer aber glaubt, Patentlösungen für immer anbieten zu können, der hat die Macht der Moderne noch nicht verstanden. Nichts in ihr ist sicher – kein noch so stolzer Bankenturm und auch kein noch so felsenfest gegründet geglaubte Arbeitsplatzidentität. Daran hat die Finanzkrise mit großer Vehemenz erinnert – und von daher erklären sich auch die Sorge und die Wut, die mit ihr einhergehen.
Was derzeit durchschlägt, ist eher der Kampf um die nicht schmerzlos zu habende Einsicht, dass man sich noch mehr als bisher auf Krisen und Unsicherheitsmanagement als Normalzustand wird einstellen müssen.