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Archiv-Artikel

Männer sind die neuen Frauen

ANSPRÜCHE Früher hatten Männer irreale Erwartungen an Frauen. Heute ist es umgekehrt. Oder schlimmer

Männer nehmen nicht bewusst wahr, welchen Ansprüchen sie permanent zu genügen versuchen

VON MATTHIAS LOHRE

Nina mag ich, wirklich. Und das, obwohl sie einen miserablen Männergeschmack hat, immerhin sind wir eng befreundet. Das bereute ich neulich. Da hatte die Mittdreißigerin einen miserablen Tag, und sie ließ mich ausführlich daran teilhaben.

„Frauen machen sich das Leben selbst zur Hölle“, klagte sie. Wir saßen auf meiner Couch, guckten eine Folge der US-Serie „Mad Men“ auf DVD: das starre Rollenverständnis der frühen sechziger Jahre, präsentiert in prächtigen Farben. Männer als echte Kerle, Frauen als hübsche Zugaben. „Hat sich denn in den vergangenen fünfzig Jahren gar nichts verändert?“, fragte Nina. „Sie überlegen immer noch viel zu oft, wie sie auf Männer wirken. Und anstatt sich mit anderen Frauen solidarisch zu zeigen, machen sie sich beim Werben um Männer auch noch gegenseitig Konkurrenz. Frauen sind immer noch das überforderte Geschlecht. Meine Herren!“

Ich sagte lieber nichts. Denn hätte ich in diesem Moment meine Gedanken zusammenfassen müssen, dann wäre das ein großer Seufzer gewesen: „ ‚Deine Herren‘ werden mittlerweile so überfordert wie Frauen, nur anders. Männer sind die neuen Frauen.“ Merke: Provoziere eine Frau nie in deiner eigenen Wohnung. Man kann so schlecht nach Hause fliehen.

Aber Nina war noch nicht fertig. „Frauen haben es verdammt schwer. In unseren Zwanzigern und Dreißigern müssen wir die Basis legen für den Rest unseres Lebens: Wir sollen und wollen Karriere machen, aber zur selben Zeit suchen wir einen Partner. Wenn wir einen Kerl gefunden haben, den wir auch nüchtern ertragen können, müssen wir uns beeilen, wenn wir Kinder haben wollen.“ Jetzt seufzte Nina. „Da habt Ihr Männer es viel besser.“ Sie ließ sich zurück auf die Couch sinken und stopfte Chips in ihren Mund. Der Druck, attraktiv zu sein, schmälerte jedenfalls nicht ihren Appetit.

Im Fernseher lief die „Mad Men“-Folge weiter. Der Kreativdirektor hatte in einer stylishen New Yorker Werbeagentur seinen Auftritt: Don Draper, ein Typ wie Superman, nur ohne lächerliches Cape.

Der Macho, sexy, coole Sau – oder doch der Ehrliche?

Chef Draper konferierte mit den Mitarbeitern Harry Crane und Ken Cosgrove. Anzugträger und beide um die 30. Da hatte ich eine Idee. Als die drei nebeneinander auf dem Schirm zu sehen waren, drückte ich die Pausentaste.

„Wen findest du interessanter?“, fragte ich Nina. „Den Macho Draper? Den hingebungsvollen, etwas schüchternen Gatten Crane? Oder den unkomplizierten, aber literarisch ambitionierten Cosgrove?“ Auf der Couch rollte ein Augenpaar. „Achdschße.“

„Mal ehrlich: Klar, Draper ist ’ne coole Sau, total sexy und erfolgreich. Aber er ist nur eine Erfindung.“ Nina sah mich an, als hätte sie versehentlich etwas Bitteres gegessen. Und schwieg.

„Denk doch mal nach: Wenn man die ganze schicke Sechziger-Jahre-Ästhetik abzieht, sieht der Schauspieler, also Jon Hamm, nicht halb so gut aus. Er trägt in Wirklichkeit schlabbrige Hemden, ist sogar etwas schüchtern. Er ist ein Mann mit Fehlern und Macken. Wäre es nicht klüger, Frauen würden das anerkennen? Und müssten sie dann nicht auf andere Männer stehen?“

„Zum Beispiel?“, fragte sie.

„Zum Beispiel auf einen Mann wie Harry Crane: eine ehrliche Haut, die versucht, Karriere, Frau und Kind unter einen Hut zu bringen. Er redet mit seiner Frau über Selbstzweifel und …“

„… und er jammert und sieht nicht sonderlich sexy aus“, sagte Nina. „Aber dass er an seiner Beziehung arbeitet, macht ihn sympathisch.“

„Na gut“, sagte ich. „Nehmen wir Kandidat Nummer zwei: Ken Cosgrove – jungenhaft gut aussehend, erfolgreich im Job, dabei ein netter Kerl und Autor von Kurzgeschichten. So einer wäre auch heute interessant, oder?“

„Cosgrove hat keine Kanten“, konterte Nina. „Der ist ganz hübsch, man kann mit ihm bestimmt auch über Literatur reden. Aber sonst …“

„Okay, okay. Ich fasse also zusammen: Männer sollen Machos sein, aber nett zur Frau an ihrer Seite. Sie sollen hundert Prozent im Job geben, sich auch um die Kinder kümmern, nicht klagen, intellektuell stimulierend sein, gut aussehen, Kanten haben, aber keine Macken. Das kann doch niemand bieten – außer mir vielleicht.“

Nina legte bei ihrer Augenrollfrequenz eine Schippe drauf. Sie sah jetzt aus wie ein Jurymitglied bei „Germany’s next Topmodel“.

„Also erst mal: Herzlichen Glückwunsch zu deiner Selbstüberschätzung.“

„Danke.“

„Gern. Zweitens: Vielleicht wollen wir ja gar nicht alles haben. Andererseits …“ Jetzt sah sie wiederum aus wie eine Ärztin, die nicht recht weiß, wie sie ihrem Patienten die dramatische Diagnose beibringen soll. „Andererseits wollen viele Frauen natürlich schon die Eier besitzende Wollmilchsau. Einen Kerl wie Don Draper.“

„Merkst du was?“, fragte ich. „Nicht nur das Leben von Frauen ist kompliziert. Heute machen sich auch immer mehr Männer ihr Leben zur Hölle: Sie überlegen viel zu oft, wie sie auf Frauen wirken. Sie machen Karriere, und zwar auch, um Frauen zu gefallen. Und anstatt sich mit anderen Männern solidarisch zu zeigen, machen sie sich im Arbeits- und im Privatleben auch noch gegenseitig Konkurrenz. Wann hat sich all das bloß so stark verändert? Früher war es Job der Männer, Frauen unrealistischen Erwartungen auszusetzen. Heute werden sie von Frauen und sich selbst überfordert. Jeden Tag, Woche für Woche. Meine Herren!“

„Ach ja? Die kommende Woche wird für mich totaler Stress. Ich habe Dates mit drei Typen, die ich im Internet kennengelernt habe. Im Job habe ich zwei neue Aufträge, die ich nur bewältigen kann, wenn ich am Wochenende arbeite. Zwischendurch will ich zum Yoga: um mich zu entspannen und gut auszusehen. Und irgendwie versuche ich bei alledem, noch Zeit für meine Freunde zu finden. Und einer von denen erzählt mir dann, Männern gehe es schlechter als Frauen. Kerle sind so selbstmitleidig.“

Die DVD lief. In meinem Kopf klemmte noch der Pausenknopf. Im Fernseher spiegelte sich das Bild von Nina und mir auf der Couch. Wie kann es sein, dass zwei Menschen einander seit Langem kennen, aber eigentlich doch nichts von den Problemen des anderen wissen?

Nina spürt sehr genau, welcher Druck auf ihr als Frau lastet. Aber sie ahnt nicht, unter welchen Belastungen Männer heutzutage leiden. Selbst viele Männer nehmen nicht bewusst wahr, welchen Ansprüchen sie permanent zu genügen versuchen.

Viele Frauen wollen im Status überlegene Partner

Männer sind immer noch gut im Ignorieren, nur wollen sie heute andere Dinge ignorieren als früher. Selbstreflexion und die damit einhergehenden Selbstzweifel gelten noch immer als so unmännlich wie die Sorge um die eigene Gesundheit oder das Körpergewicht. Unsexier sind bloß Krankheit und Fettleibigkeit.

Zur maskulinen Verwirrung tragen Frauen entscheidend bei. Einerseits verlangen sie einen Partner auf Augenhöhe, der sie ernst nimmt. Andererseits folgen sie bei der Beziehungssuche immer noch einem alten Beuteschema. Frauen wollen mehrheitlich einen Partner, der beruflich erfolgreicher ist und mehr Geld nach Hause bringt als sie.

Der Münchner Paartherapeut Stefan Woinoff hat übers archaische Beuteschema ein Buch geschrieben. Woinoff beschreibt das Dilemma so: „Natürlich müssen auch die Männer lernen, neue Rollen zu akzeptieren, ohne die Angst, dass ihre Männlichkeit darunter leidet. Aber die Sichtweise vieler Frauen schürt ja diese Angst.“ Woinoffs Fazit: „Solange Frauen im Privaten eher einen im Status überlegenen Mann suchen, wird sich gesellschaftlich nicht viel ändern.“

Wenn Frauen über einen selbst erworbenen, hohen sozialen Status verfügen, wozu brauchen Sie dann noch den „Silberrücken“? Die Lehrerin mit Beamtenstatus oder die erfolgreiche Managerin kann sich leichteren Herzens aus Liebe für den (noch) erfolglosen Schriftsteller oder Musiker entscheiden. In Berlin-Prenzlauer Berg oder im Hamburger Schanzenviertel sind Prachtexemplare solcher milden Kerle zu besichtigen, die sich um eine Balance von Arbeit und Leben bemühen. Um sie sollten sich Frauen reißen. Ich wohne übrigens in Prenzlauer Berg.

Matthias Lohre: „Milde Kerle: Was Frauen heute alles über Männer wissen müssen“. S. Fischer/Krüger, Frankfurt a. M. 2013, 254 Seiten, 16,99 Euro