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Archiv-Artikel

Befreite Musik

POLITISCHE WELTMUSIK Mit einer langen Radtour wollte der Kieler Liedermacher Heinz Ratz vor zwei Jahren auf die Situation von Flüchtlingen in Deutschland aufmerksam machen. Entstanden ist daraus das Musikprojekt Strom & Wasser feat. the Refugees

Der Musiker Ratz traf Menschen mit einer bewegenden Geschichte

VON NILS SCHUMACHER

Einige der Fragen, die sich zu Beginn stellen, sind dieselben wie bei anderen Bands auch: Werden Leute kommen, werden sie die Musik mögen? Für das Projekt Strom & Wasser feat. The Refugees stellen sich aber noch ganz andere Fragen: Werden überhaupt alle Musiker mitfahren können? Und werden am Ende noch alle dabei sein? Denn etliche von ihnen sind in Deutschland nur geduldet, müssen jeden Tag damit rechnen, wieder abgeschoben zu werden.

Die Rede ist von einem besonderen Musikprojekt: Vor zwei Jahren hat sich der Kieler Liedermacher und Autor Heinz Ratz mit dem Rad auf eine 5.500 Kilometer lange Reise durch die Flüchtlingsheime und -lager des Landes gemacht. Der letzte Abschnitt eines „moralischen Triathlons“, der auf die Situation in Deutschland lebender Flüchtlinge aufmerksam machen soll, nachdem Ratz bereits mit einem 960-Kilometer-Lauf und einem 850-Kilometer-Schwimmen Obdachlosigkeit und Artenschutz zum Thema gemacht hatte. Dokumentiert hat das sportlich-musikalische Mammutprojekt letztes Jahr die Filmemacherin Linn Marx.

Knapp 80 Orte besuchte Ratz während seiner „Tour der 1000 Brücken“, traf auf Menschen, deren Leben sich unter Bedingungen abspielt, die von Restriktionen, Unsicherheiten und Mangel geprägt sind. Dazu gehören nicht nur eingeschränkte Bewegungsfreiheit und entwürdigende Lebensbedingungen, Isolation und die Beschneidung von Handlungsmöglichkeiten. Denn Element eines solchen Flüchtlingssystems ist immer auch die Verfestigung des Bildes vom Flüchtling als Mensch mit einem nur rudimentär vorhandenen Profil.

Der Musiker Ratz hingegen traf Menschen mit einer bewegenden Geschichte: Musiker_innen, die dort, woher sie gekommen sind, nicht selten berühmt waren, unter den neuen Bedingungen aber nicht einmal in der Lage sind, sich ihr Instrument zu leisten. Menschen, denen keiner zuhören kann, von denen keiner erfährt. Ratz’ Idee: Diesen Musikern wieder eine Bühne zu geben, „all diese gefangene Musik befreien und in die Welt entlassen“.

Mit finanzieller Unterstützung durch Fans und Stiftungen ist aus etlichen gemeinsamen Jams letztes Jahr das Album „Strom & Wasser feat. The Refugees“ hervorgegangen. Eingespielt mit rund 30 in deutschen Flüchtlingsheimen lebenden Musikern aus Europa, Afrika und Asien. Ratz’ Band – im allgemein für ausgestorben gehaltenen Segment des bewegten Liedermachertums beheimatet – fungiert hier nur als rhythmisches Gerüst. Darauf montiert entfaltet sich wörtlich zu nehmende cross-cultural music, in der sich – entsprechend der musikalischen Hintergründe der Beteiligten – Dub, Hip-Hop, Manele, Ziglibithy und anderes miteinander verbinden. Viel wichtiger aber ist für viele der Beteiligten, wieder eine Gelegenheit zu bekommen, wahrgenommen zu werden. Da rappt MC Nuri aus der russischen Republik Dagestan, der heute in einem Flüchtlingslager im niedersächsischen Gifhorn lebt, über seine Situation. Eine Erleichterung für ihn, endlich erzählen zu können, wie er sich fühlt. Und Respekt für seine Kunst zu bekommen.

Hunderte Telefonate, Anfragen, Anträge bei Ausländerbehörden später und gesäumt von den für Flüchtlinge üblichen Auflagen wie dem Lohnarbeitsverbot ist Ratz’ Projekt nun seit Ende Februar wieder auf ausgedehnter Tour. In den kommenden Wochen ist es auch in Norddeutschland zu erleben.

■ Flensburg: 22. 3., Volksbad; Kiel: 24. 3., Pumpe; Braunschweig: 11. 4., Brunsviga; Husum: 12. 4., Speicher; Lübeck: 13. 4., Volkshochschule; Neumünster: 19. 4., Flüchtlingsheim; Osnabrück: 20. 4., Lutherkirche; Bremen: 21. 4., Lagerhaus; Lüneburg: 1. 5., Anna & Arthur; Hannover: 13. 5., Béi Chéz Heinz; Hamburg: 20. 5., Fabrik; Wolfsburg: 13. 6., Kulturzentrum Hallenbad; Oldenburg: 14. 6., Alhambra