: Freiheit für die Geschichte
Straßen, Häfen, Schulen und Krankenhäuser gebaut: Historikerstreit in Frankreich über die gesetzlich verordnete positive Darstellung des Landes als Kolonialmacht
„Wir sind nicht die Sowjetunion“, schreibt das Pariser Magazin Marianne diese Woche. Eine Gruppe von prominenten HistorikerInnen wettert: „In einem freien Staat sind weder das Parlament noch die Justiz dafür zuständig, die historische Wahrheit zu schreiben.“ Auf der französischen Antilleninsel Martinique weigert sich der 92-jährige Dichter Aimé Césaire einen Minister aus Paris zu empfangen: „Weil ich meinen antikolonialen Überzeugungen treu geblieben bin.“ Und Staatspräsident Jacques Chirac beauftragt eine Kommission, die das Verhältnis zwischen Parlament und Geschichte ergründen soll.
Anlass für den HistorikerInnen-Streit, der die intellektuelle und politische Elite in Frankreich beschäftigt, ist ein Halbsatz in einem Gesetz. „Die positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee soll im Unterricht gewürdigt werden“, steht in Artikel 4 in Gesetz Nummer 158. Mehr als 40 Jahre nach dem Zusammenbruch des französischen Weltreichs soll die koloniale Ausplünderung in eine Wohltat verwandelt werden.
Die Umschreibung der Geschichte liegt im Zeitgeist. Die Sammlungsbewegung UMP hofiert so ultrarechte WählerInnen. Parteichef Nicolas Sarkozy, in Personalunion Innenminister, vertritt offensiv die neue Geschichtsvision. Sarkozys Begründung: „Wir können nicht ewig Reue zeigen.“ Seine Parteifreunde erklären allen Ernstes, dass Frankreich den Kolonien „Straßen, Häfen, Schulen und Krankenhäuser“ gebaut habe. Und schimpfen über GeschichtslehrerInnen, die „alles nur negativ darstellen“. Als zwei Pariser Regierungsmitglieder mit dunkler Hautfarbe Artikel 4 kritisieren, werden sie von einem Parteifreund aus der UMP in ihre (ethnischen) Grenzen gewiesen. „Ohne den französischen Kolonialismus wären Azouz Begag (der nordafrikanische Vorfahren hat, d. Red.) und Léon Bertrand (aus dem in Südamerika gelegenen Département Guyana, d. Red.) gar nicht erst Minister geworden“, erklärt der Abgeordnete Lionel Luca.
Diese Gesinnung zeigt sich auch an Orten in Frankreich, wo viele einstige KolonialsiedlerInnen und ihre Nachfahren leben. Dort wird nicht nur der Kolonialismus insgesamt positiv gewendet, sondern werden auch bislang verpönte Kampftruppen rehabilitiert. Unter anderem gibt es neuerdings in Toulouse, in Nizza und in Perpignan Denkmäler für die OAS – die französische Geheimarmee, die im Algerienkrieg zahlreiche Attentate auf die Zivilbevölkerung verübt hat.
Das Gesetz mit dem umstrittenen Artikel 4 hat im ersten Anlauf im Februar problemlos das französische Parlament passiert. Damals stimmten nur die kommunistischen Abgeordneten gegen die „Geschichtsrevision“. Erst ein halbes Jahr später, nachdem die Proteste der GeschichtslehrerInnen immer lauter wurden und das Gesetz auch für Wut in Algier gesorgt hatte, erkannte die sozialistische PS das Potenzial des Halbsatzes. Ende November setzte sie eine neuerliche parlamentarische Debatte und Abstimmung durch, um den Artikel 4 zu streichen. Zwar verteidigten die UMP-Abgeordneten erneut ihr Gesetz und konnten sich dank einer absoluten Mehrheit problemlos durchsetzen. Doch stimmten beim zweiten Anlauf fast alle linken Abgeordneten dagegen. Dennoch bleibt die Kolonialfrage auch in der PS umstritten. PS-Führungsmitglied und Regionalratspräsident im Languedoc-Roussillon, Georges Frêches, beispielsweise befürwortet die Rehabilitierung des Kolonialismus. Bei einer Sitzung des Regionalrates schmetterte er kürzlich lauthals den „Chant des Africains“, das Hohelied auf die Kolonialsoldaten. Demnächst will er ein Kolonialmuseum in seiner Region eröffnen.
In der aufgeregten politischen Stimmung können sich HistorikerInnen nur schwer Gehör verschaffen. Neunzehn von ihnen versuchen es trotzdem. Pierre Nora, Mona Ozouf, Pierre Vidal-Naquet und andere verlangen in einer vergangene Woche lancierten Petition „Freiheit für die Geschichte“. Sie wollen die Gelegenheit nutzen, um alle Vereinnahmungen der Geschichte durch die Politik zu kippen. Von der per Gesetz empfohlenen Beschönigung des Kolonialismus bis hin zum Gayssot-Gesetz von 1990, das jede Form von Rassismus und Antisemitismus sowie das Leugnen und Verherrlichen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe stellt. Die UnterzeichnerInnen der Petition halten solche Dogmen für „einer Demokratie unwürdig“.
DOROTHEA HAHN