: Hinterm Kirchenzaun droht Haft
AUS LÜNENMIRIAM BUNJES
Wenn Fremde da sind, muss sie lachen. Hadjera Abdulji zieht die Mundwinkel so weit nach oben, dass die mandelförmigen Augen beinahe unter den Wangenknochen verschwinden. „So bin ich immer, wenn Leute kommen“, sagt die 26-Jährige und hält sich am Stuhlrand fest. Niemand soll denken, dass sie Angst hat, vor allem nicht das rundliche Mädchen, das auf einer Klappkiste über den grauen PVC-Boden rutscht – Hadjeras vierjährige Tochter Sibel. „Wenn es passiert, werde ich damit zurecht kommen“, sagt sie.
„Es“ ist ihre und Sibels Abschiebung in Serbiens Hauptstadt Belgrad, Hadjera Abduljis Geburtsort. Eigentlich sollten sie schon seit fast zwei Monaten dort sein. Heute wirft sich Sibel im Lüner Stadtteil Niederaden auf ein großes Ausziehsofa und sagt: „Das ist das schönste Bett, was wir bis jetzt hatten“. Ihre Mutter lächelt und diesmal lächeln ihre Augen mit.
Sibels schönstes Bett steht seit einigen Wochen an einer vier Meter hohen weißen Wand in einem fast hundert Quadratmeter großem Raum. Eine braune Filzwand und ein gemustertes Sofa in Pastellfarben schirmen das Bett und den kleinen Fernseher ab, machen es zur Insel im Saal. Eigentlich wird hier nicht gewohnt. Die Insel liegt in einem Saal des evangelischen Gemeindehauses Lünen-Niederaden. Hier treffen sich Senioren-, Frauen- und Männergruppen zum Diskutieren und Plätzchenbacken. Es gibt eine Küche, mehrere Geschirrschränke und einen weißen Tisch mit gepolsterten Holzstühlen, an deren Rändern sich jetzt eine kleine Romafrau festhalten kann, um ihre Angst zu besiegen.
Seit fast zwei Monaten leben Hadjera und Sibel Abdulji jetzt schon im Lüner Kirchenasyl. Hadjera hat mit den Seniorinnen der Gemeinde zwanzig Kilo Weihnachtsplätzchen gebacken und mehr als 150 Pappschneemänner für die Weihnachtsgottesdienste gebastelt, obwohl sie als Muslimin eigentlich keine Weihnachten feiert. Wenn niemand kommt, macht sie nichts. „Manchmal sehe ich fern“, sagt sie. „Oder ich wasche alle Vorhänge.“ Manchmal besucht sie auch die Pfarrersfamilie im Nebenhaus.
Wenn sie ihren Saal verlässt, schaut sie erst einmal nach rechts und links, ob irgendwo ein Polizeiwagen steht. Dann rennt sie quer über das Grundstück ins Backsteinhaus der Pfarrersfamilie. „Theoretisch könnte sie dabei verhaftet werden“, sagt Gemeindepfarrer Wolfgang Möller. Eigentlich hat die Lüner Polizei sogar das Recht, das Gebäude zu stürmen und Hadjera und Sibel sofort zum nächsten Flughafen zu schaffen. Kirchenasyl ist eine juristische Grauzone, Kirchenräume haben keine rechtliche Sonderstellung. Dennoch schützen viele Gemeinden Flüchtlinge vor der Abschiebung. Auch wenn die Ausländerbehörden deren Asyl in Deutschland als beendet betrachten (siehe Kasten). Für Hadjera musste es schnell gehen. 24 Stunden vor der Abschiebung bekam per Post von der Stadt Lünen die Aufforderung, ihre Sachen zu packen. Sie holte Sibel mit Tränen in den Augen vom evangelischen Kindergarten ab, drei Stunden später hatte die Gemeinde ein Asyl organisiert.
„Wir respektieren das Kirchenasyl“, sagt Reinhold Urner, Sprecher der Stadt Lünen. Wie weit dieser Respekt geht, sei mit der Kirche abgesprochen. Hadjera Abdulji dürfe sich auf dem Kirchengrundstück aufhalten, ohne von der Polizei angerührt zu werden. Sibel könne außerdem in den Kindergarten um die Ecke gehen. „Das wäre ja unmenschlich, wenn wir das Kind so einschränken würden“, sagt Urner. Die Stadt will abwarten, bis Hadjera und ihre Unterstützer die letzten Rechtsmittel gegen die Abschiebung ausgeschöpft haben. „Dann schieben wir ab“, sagt Urner. Dass Hajera Abduljis Zeit in Lünen zu Ende ist, davon sind im rot-grün regierten Lüner Rathaus alle überzeugt. „Sie hat einen serbischen Pass, in Serbien ist seit Jahren kein Krieg mehr, deshalb muss sie zurück“,sagt Urner. Sein Vorgesetzter, Lünens Bürgermeister Hans Wilhelm Stodollick hatte zuvor in der Lokalpresse angekündigt: „Wir sorgen für einen weichen Flug.“
Zwei Tage vor Weihnachten hat das Oberverwaltungsgericht Gelsenkirchen die Einschätzung der Lüner Ausländerbehörde bestätigt. Hadjera und der Lüner Unterstützerkreis hoffen noch auf die Härtefallkommission und der Petitionsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags. „Es sieht schlecht aus“, sagt Pfarrer Wolfgang Möller. Hadjera nickt und lächelt. „Sibel versteht zum Glück nicht, worauf wir warten“, sagt sie und streichelt über die schwarzen geflochtenen Zöpfen. Sie hat ihr gesagt, dass das hier erstmal ihre neue Wohnung ist. „Es ist schöner hier als im alten Zuhause“, sagt die Vierjährige. Ihr Deutsch ist ohne Fehler, akzentfrei. Hadjera Abdulji spricht fast ausschließlich Deutsch mit ihr. Manchmal auch ein bisschen Romanes. „Das kann sie aber nur ein bisschen.“ Serbokroatisch kann Sibel nicht. „Ich hab ja gedacht, wir bleiben hier“, sagt Hadjera. „Sag doch mal: Das Wetter ist schlecht auf Serbokroatisch“, sagt Wolfgang Möller. Hadjera überlegt. „Das kann ich so gar nicht auf Kommando“, sagt sie. Obwohl es immer noch um ihre Zukunft geht, hat sie aufgehört, sich am Stuhl festzuhalten.
Im ehemaligen Jugoslawien ist sie ein Jahr in die Schule gegangen, ansonsten hat sie mit ihrer Familie an vielen Orten gelebt. Wie die meisten Roma-Mädchen war sie nur mit anderen Roma zusammen. Mit 16 heiratete sie den Mann, den ihre Familie ausgesucht hatte, und zog endgültig in den Kosovo. 1999 flüchtete die inzwischen vierköpfige Familie vor dem Bürgerkrieg nach Lünen.
In den Kosovo werden Roma bis heute nicht abgeschoben, nach Einschätzung der immer noch dort stationierten Friedenstruppen werden sie dort diskriminiert – deshalb versuchen Hadjeras Unterstützer zu beweisen, dass hier ihr Lebensmittelpunkt war. „In Serbien ist das aber nicht anders“, sagt Andrea Genten vom Flüchtlingsrat NRW. „Roma stehen auf dort auf der untersten Stufe der Gesellschaft.“
„In Belgrad landen Hadjera und Sibel mit ziemlicher Sicherheit im Slum“, sagt auch Erika Roß, stellvertretende Vorsitzende des Lüner Migrationsrates und grüne Ratsfrau: „Und für die Zukunft ihrer Tochter sehe ich dann schwarz: Ohne Sprachkenntnisse in einem Land, das sie nicht kennt.“ Die Lüner Grünen versuchen deshalb, Kontakt zu Belgrader Frauenorganisationen zu bekommen. „Für alleinstehende Roma haben wir noch nichts gefunden“, sagt Roß. „Scheidung ist für Roma schließlich ein Tabu.“
Vor vier Jahren hat sich Hadjera von ihrem Mann getrennt. „Er hat mich geschlagen“, sagt sie. Seitdem lebt sie auch getrennt von ihren sieben- und achtjährigen Söhnen. Ihr Mann verbietet den Kontakt. „Bei uns Roma bestimmen die Männer über die Kinder“, sagt Hadjera. „Ich habe Glück, dass er mir nicht auch Sibel genommen hat.“Sie habe sozusagen keine Familie mehr, erklärt Hadjera. „Wenn man heiratet, gehört man zur Familie vom Mann. Die eigene liebt einen nur als kleines Mädchen, sonst ist man eine Last.“
Hadjera hat aufgehört, zu lächeln. Ihre Mandelaugen blitzen. Sie steht auf und schließt ihre Tochter in die Arme. „Ich will nicht, dass Sibel so lebt, das ist das Wichtigste“, sagt sie und stützt die Hände an die schmale Hüfte. Dafür wartet sie noch länger in ihrer Insel im Saal. Wartet und spielt ihre Möglichkeiten durch. Am liebsten denkt sie daran, wie sie in Lünen einen Schreibkurs macht, wie Sibel hier eingeschult wird und sie ihre Söhne wiedersieht. „Ich hab ja Zeit zum Träumen“.