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Archiv-Artikel

Den Takt gibt die innere Uhr

CHRONOPHARMAKOLOGIE Biorhythmen bestimmen nicht nur unseren Alltag. Sie beeinflussen auch die Wirkungen von Arzneimitteln. Die Empfindlichkeit des Körpers für Medikamente ändert sich im Laufe eines Tages

Der zentrale Taktgeber des Gehirns verändert seine Feuerrate im 24-Stunden-Rhythmus

VON CLAUDIA BORCHARD-TUCH

Sabine hatte große Angst vor dem zweiten Zahnarztbesuch. Beim letzten Mal am Morgen hatte sie ein lokales Schmerzmittel bekommen. Bereits nach zehn Minuten verspürte Sabine starke Schmerzen. Dieses Mal war es Nachmittag. Der Zahnarzt spritzte ihr das gleiche Schmerzmittel in derselben Dosierung. Doch nach zehn Minuten empfand Sabine noch immer keine Schmerzen.

Dass dahinter eine „innere Uhr“ steckte, die alle Körperfunktionen des Menschen nach einem strengen Zeitplan regelt, war weder dem Zahnarzt noch Sabine bekannt. „In der Medizin wird zumeist stillschweigend angenommen, dass die Wirkungen eines Arzneimittels zu jedem beliebigen Zeitpunkt gleich sind“, erklärt Björn Lemmer von der Rupprecht-Karl-Universität Heidelberg. „Dies ist vielfach widerlegt worden. Noch immer wird der Chronopharmakologie zu wenig Beachtung geschenkt.“

Der zentrale Taktgeber des Gehirns – genannt „Suprachiasmatischer Nucleus“ (SCN) – verändert seine Feuerrate im 24-Stunden-Rhythmus. Hierbei spielt die Sonneneinstrahlung eine wichtige Rolle. Als „Tag-Tier“ ist der Mensch tagsüber auf Kampf oder Flucht eingestellt, nachts auf Ruhe und Erholung.

Die Chronopharmakologie befasst sich mit der inneren Uhr des Körpers und den Konsequenzen für die Arzneimitteltherapie. Hauptziel der Chronopharmakologen ist die Optimierung einer Behandlung: die höchstmögliche Steigerung der Medikamentenwirkung und die Verringerung der Nebenwirkungen bis zum Minimum.

Einerseits verlaufen Aufnahme, Abbau und auch die Ausscheidung eines Medikaments zeitabhängig. Andererseits zeigen zahlreiche Erkrankungen wie Asthma, Bluthochdruck, Verengung der Herzkranzgefäße oder Krebs ausgeprägte tagesrhythmische Schwankungen, die eine zeitlich abgestimmte Therapie benötigen.

Mittlerweile ist beispielsweise bekannt, dass die sogenannten H2-Antihistaminika zur Behandlung eines Magengeschwürs auf den Nachttisch gehören: Ideal ist deren Einnahme in den Abendstunden. Denn die Magensäuresekretion folgt einem Tag-Nacht-Rhythmus mit einem Maximum um 22 Uhr und einem Tiefststand um 8 Uhr. Daher erreicht man die größtmöglichste Säurehemmung bei abendlicher Einnahme.

Auch die meisten Medikamente gegen Asthma sollten abends in höherer Dosierung als morgens gegeben werden. Denn Asthmaanfälle treten häufig in der Nacht auf. Mehrere Ursachen liegen zugrunde. In der Nacht ist die Empfindlichkeit der Lunge auf Bronchien verengende Substanzen wie sich im Hausstaub befindende Allergene erhöht. Nachts ist zudem die Aktivität des Sympathikus gering, während die Aktivität des Parasympathikus hoch ist. Während das sympathische Nervensystem die Bronchien erweitert und die Atmung beschleunigt, verengt der Parasympathikus die Bronchien.

Der Blutdruck schwankt ebenfalls im Tagesrhythmus. Beim Menschen ist jedoch die zentrale Regulation der Blutdruckdynamik bisher kaum untersucht und die Ursache des Bluthochdrucks noch unbekannt. Sicher ist der SCN für die Rhythmik von Bedeutung. Bei Gesunden und bei Patienten mit einem sogenannten primären Hochdruck kommt es zwischen 9 und 10 Uhr morgens zu einem Gipfel. Mittags fällt der Blutdruck ab und vom Nachmittag bis zum Abend steigt er wieder an.

In der Nacht fällt der Blutdruck bei gesunden Personen um bis zu 15 Prozent ab („Dipper“). Fehlt der nächtliche Blutdruckabfall, handelt es sich um einen sogenannten Non-Dipper. Diese Patienten leiden zumeist unter einem sekundären Hochdruck als Folge einer anderen Erkrankung, beispielsweise der Niere. Die Behandlung der Bluthochdruckpatienten muss an die entsprechenden Rhythmen angepasst werden, um eine optimale Wirkung zu erzielen. So verstärken beispielsweise ACE-Hemmer bei abendlicher Einnahme die nächtliche Blutdrucksenkung, was bei Dippern zu einem Schlaganfall führen kann. Bei Non-Dippern hingegen kann die abendliche Einnahme von ACE-Hemmern den nächtlichen Bluthochdruck normalisieren.

Auf einer Verengung der Herzkranzgefäße beruhende Angina-pectoris-Anfälle mit einem Gefühl der Enge auf der Brust treten tagsüber häufiger auf als nachts. In mehreren Studien wurde ein erhöhtes Vorkommen von Herzinfarkten in den frühen Morgenstunden nachgewiesen. Dies ist vor allem auf die Erhöhung des Blutdrucks und der Herzfrequenz und den dadurch gesteigerten Sauerstoffverbrauch des Herzens zurückzuführen. In der Therapie der Angina pectoris hat sich zum Beispiel der Wirkstoff Propranolol, ein Beta-Blocker, am effektivsten erwiesen, wenn es als morgendliche Einmaldosis gegen 8 Uhr gegeben wird.

Die therapeutische Anwendung von Zytostatika, die die Zellteilung verhindern, ist durch deren hohe Toxizität begrenzt. In tierexperimentellen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass eine Chronotherapie mit Zytostatika nicht nur deren schädigende Wirkung vermindern, sondern auch die Heilungsquote bei Tumoren verbessern konnte. Dabei wurden die Arzneistoffe nur zu bestimmten Tageszeiten oder eine unterschiedliche Dosierung zu verschiedenen Tageszeiten gegeben.

Entscheidend ist oftmals, welcher Wirkstoff wann eingesetzt wird. So brachte die Infusion des zur Krebsbehandlung eingesetzten Zytostatikums Adriamycin beispielsweise günstigere Ergebnisse und wurde besser vertragen, wenn die maximale Infusionsrate in den frühen Morgenstunden lag. Umgekehrt verhält es sich bei dem Wirkstoff Cisplatin, das ebenfalls als Zytostatikum eingesetzt wird. Bei dieser Substanz sollte die maximale Infusionsrate am besten für 18 Uhr eingeplant sein.

„Die Chronotherapie mit Zytostatika verlängert das Überleben“, so Björn Lemmer. „Allerdings bedürfen die Befunde einer Bestätigung durch weitere Studien.“ Zurzeit laufen zahlreiche europäische Studien unter Leitung der European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC), die eine Chronotherapie mit Zytostatika bei verschiedenen Tumorerkrankungen mit einer konventionellen Therapie vergleichen.