: Morgens Uni, abends Knast
VON MAREN MEIßNER
Das Fenster im Besuchsraum ist vergittert. Zwei kleine Tische mit je zwei Stühlen stehen darin, die Wände sind weiß und kahl. Der Raum ist wenig gemütlich, Marek (Name geändert) behält seine Jacke gleich an. Verlegen knetet er seine Hände. „Das war schon keine kleine Sache damals“, sagt er.
Marek sitzt in einem Gefängnis im Ruhrgebiet. Sechs Jahre hat der heute 40-Jährige bekommen für etwas, über das er nicht sprechen möchte. Er ist freundlich und zuvorkommend, wirkt wie einer, der einer alten Frau auf jeden Fall über die Straße helfen würde. Seine Kleidung ist sportlich: Jeans, Sweatshirt, Turnschuhe. Mit wachen Augen blickt er seine Gesprächspartnerin an. Marek ist im offenen Vollzug und im Begriff, seine Zukunftspläne zu verwirklichen: Er studiert im dritten Semester Maschinenbau.
Geboren in Polen, zieht Marek Mitte der 90er Jahre nach Deutschland. Seine Familie ist deutscher Abstammung, viele Verwandte leben bereits seit Jahren in der BRD. Gemeinsam mit zwei Brüdern und einer Schwester zieht der damals 31-Jährige zunächst nach Wuppertal.
Mareks Erzählung gerät ins Stocken, wenn er von seinen Anfängen in Deutschland erzählen soll. Er schaut auf den Holztisch, in den vorherige Besucher alles Mögliche geritzt haben. „Ich konnte ja kein Deutsch“, sagt er nach einer langen Pause. Er zieht leicht die Schultern hoch, lächelt, als wolle er sich dafür entschuldigen, dass er als Fremder kam.
Der Anfang in Deutschland ist schwierig. Nicht nur die Sprache ist fremd, Marek hat auch keine Freunde und keine Arbeit. Zumindest Letzteres bleibt nicht lange so. Marek, der bereits in Polen eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker abgeschlossen hat, findet Arbeit in dem selben kleinen Betrieb, in dem auch sein Vater arbeitet. Einige Jahre später wechselt er zu einer großen Automobilfirma. Deutsch lernt er vor allem von seinen neuen Freunden, die er beim Kraftsport kennen lernt. „Ich habe das zu intensiv gemacht damals“, sagt er. Davon ist heute nichts mehr zu sehen. Marek ist dünn, fast schon schmächtig. Er zieht die Schultern leicht nach vorn, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Keine Spur von Muskelpaketen und Sixpack. Man mag ihm gar nicht glauben, dass er mal muskelbepackt war, sich fast täglich im Fitnessstudio aufhielt.
Vom intensiven Training bekommt Marek gesundheitliche Probleme, fällt bei der Arbeit zu oft aus, wird deshalb schließlich entlassen. Auch den nächsten Job in einer Blechbearbeitungsfirma muss er aufgeben: Asthma. „Ich bin nicht wieder richtig gesund geworden“, sagt Marek. Es klingt resigniert. Den Sport muss er aufgeben, damit auch ein paar seiner damaligen Freunde. Bald fügt er sich in sein Schicksal. Das Arbeitsamt bezahlt ihm eine Umschulung zum technischen Zeichner. „Dadurch bin ich ein bisschen auf den Geschmack gekommen“, sagt er. Marek entschließt sich, gleichzeitig sein Fachabitur nachzuholen.
Mit Abschluss und Umschulung ist er im Jahre 2001 fertig und bekommt sofort einen Job in Bochum. Wer sich diesen Werdegang vor Augen hält, glaubt, nun könne nichts mehr schief gehen. Doch ein paar Monate später wird er arbeitslos. „Sie haben ein Viertel der Leute entlassen“, sagt Marek, den Blick jetzt abgewandt. „Es kam ziemlich überraschend.“ Seine Stimme wird leiser. „Damit hatte ich wirklich überhaupt nicht gerechnet.“ Marek scheint sich den Schock noch mal ins Gedächtnis zurück zu rufen, macht dann aber eine wegwerfende Handbewegung.
Damals verkraftet er die Entlassung nicht, schreibt blind dutzende von Bewerbungen. „Ein paar Monate später kam ich dann in Untersuchungshaft.“ Warum? „Das ist eine ziemlich persönliche Sache.“ Marek schaut verlegen, redet schnell weiter über Dinge, die sich ein bisschen leichter erzählen lassen. Wie er damals durch die Hilfe eines Psychologen wieder zu sich gefunden habe, wie er trotz sechsjähriger Haftstrafe neue Pläne machen konnte. „Ich habe mich allgemein sehr verändert“, sagt er. „Früher war ich verschlossen. Jetzt weiß ich, dass alle Probleme raus müssen.“ Welche Probleme das sind, sagt er nicht. Welche Probleme es damals waren, auch nicht. Es ist ihm unangenehm, darüber zu sprechen, was in ihm vorging, welche Gefühle er hatte. „Solche Dinge dürfen einfach nicht passieren“, sagt er mit fester Stimme. Man glaubt ihm, dass er das ernst meint.
Marek landet zunächst in einer JVA in Ostwestfalen, wird nach einigen Monaten auf eigenen Wunsch verlegt. „Ich wollte in der Nähe meiner Freunde und der Familie sein“, sagt Marek. Die Zeit bis zu seiner Entlassung verbringt er nun in einem Gefängnis im Ruhrgebiet – und in der Uni. Seit Herbst 2004 studiert er Maschinenbau, mittlerweile im dritten Semester. „Man hat ein Ziel, wenn man studiert“, sagt er. Doch dieses Ziel muss er unter erschwerten Bedingungen verwirklichen. Morgens Uni, abends Knast – der ständige Wechsel von Freiheit und Gefangensein belastet die Häftlinge im offenen Vollzug sehr. Die Scheinfreiheit ist hart, bewusst hart. Schließlich soll sie dazu führen, dass die Gefangenen später „draußen“ alleine klar kommen.
Marek lächelt wieder. Ihm machen die vielen Verbote wenig aus, sagt er. Über die psychische Belastung spricht er nicht gern, wechselt schnell das Thema. Er hat sich in seine Rolle eingefunden, erträgt seine Inhaftierung mit Gleichmut, so scheint es. Lieber spricht er darüber, wie er sich im Alltag organisiert.
Am Anfang scheiterte Marek an den täglichen Kleinigkeiten: am fehlenden Internetanschluss, am fehlenden Handy. Dinge, die für seine Kommilitonen selbstverständlich sind, musste er sich mühsam organisieren. Weil er in der JVA keinen Internetanschluss hat, benutzt er die Computer in der Uni. Trotzdem ist er glücklich, dass er überhaupt studieren kann. Auch die Mitarbeiter der JVA helfen, so weit sie das können. Zum Beispiel, indem sie Marek einen eigenen PC mit Drucker erlauben.
Der Umgang mit den Kommilitonen ist schwierig. Einladungen muss er ausschlagen, weil er abends in der Justizvollzugsanstalt sein muss. „Nur ein Freund an der Uni weiß Bescheid“, sagt Marek. Für alle anderen hat er eine Geschichte konstruiert. „Anders geht es nicht, man weiß ja nicht, wie sie reagieren.“ Die Geschichte ist die eines normalen Mannes, eingebettet in ein normales Leben, der ganz normal studiert. Nichts Außergewöhnliches soll die Kommilitonen misstrauisch machen. Diese Lüge belastet ihn genau so wie die Frage, was nach seiner Entlassung passieren soll. Pläne hat er viele: Studium beenden, wieder gemeinsam mit seiner Familie leben, einen Job finden. In gut einem Jahr wird Marek den offenen Vollzug verlassen. Auf Bewährung.