: Der Alptraum schlechthin
HARTZ IV Wer Leistungen beim Jobcenter beantragt, muss sich auf Streitigkeiten einstellen. Ein Leitfaden für Betroffene
VON OLE SCHULZ
Alle 13 Minuten ein neuer Fall, alle 13 Minuten ging 2009 beim Sozialgericht Berlin ein neues Verfahren ein. Tag für Tag. Mehr als zwei Drittel entfielen davon auf Hartz-IV-Beschwerden. Im Monat addiert sich das auf durchschnittlich rund 2.200 neue Hartz-IV-Verfahren.
Deutschlands größtes Sozialgericht muss nun mehr als doppelt so viele Fälle bearbeiten wie vor der Hartz-IV-Einführung im Jahre 2005. „Der Ausnahmezustand ist zur Regel geworden“, zog Sabine Schudoma, Präsidentin des Berliner Sozialgerichts, im Januar nach fünf Jahren Bilanz (siehe taz vom 16. und 18. 1. 2010).
Hinter diesen nüchternen Zahlen stehen individuelle Schicksale – Menschen, die sich vom Jobcenter derart ungerecht behandelt fühlen, dass sie als einzigen Ausweg den Gang vors Sozialgericht sehen. Bei vielen gehe es um die „bloße Existenz“, weiß Lisa Griesehop, Fachanwältin für Sozial- und Arbeitsrecht, aus ihrer täglichen Arbeit.
Die Berliner seien bei Hartz IV so „klagefreudig, weil sie die Not dazu zwingt“, sagt Griesehop vom „Anwältinnenbüro“ in Berlin. Rund 600.000 Menschen beziehen in Deutschlands Hauptstadt Arbeitslosengeld II. Doch Griesehop macht den Betroffenen Mut: „Es gibt immer Mittel und Wege, zu seinem Recht zu kommen.“ Allerdings müsse man selber aktiv werden und die gesetzlichen Fristen beachten.
Erste ernüchternde Erfahrungen mit dem Jobcenter machen viele, wenn sie ihren Hartz-IV-Antrag einreichen und dann „erst einmal wochenlang nichts hören“, so Griesehop. „Gerade, wenn man sich in einer Notlage befindet, kann man aber nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten.“ Ein Vorschuss könne zwar beantragt werden, aber oft würden die Sachbearbeiter den Antrag erst prüfen wollen – und das könne dauern, zumal sie überlastet und häufig schlecht qualifiziert seien. Rechtsanwältin Griesehop empfiehlt daher bei Streit mit dem Jobcenter, sich von den Sachbearbeitern nicht einfach abspeisen zu lassen, sondern darauf zu bestehen, mit dem Teamleiter zu sprechen.
Führt auch das zu nichts, solle man sich direkt an die Rechtsantragsstelle des Sozialgerichts wenden und dort einen Antrag auf einstweilige Anordnung stellen. „Innerhalb von ein bis zwei Wochen entscheiden Richter am Sozialgericht über das beschleunigte Antragsverfahren.“
Häufig beginnen rechtliche Auseinandersetzungen aber auch erst, wenn ein Antragsteller den Bescheid vom Jobcenter erhalten hat. Die Anrechnung gelegentlicher Einkommen Selbständiger etwa ist Anlass vieler Konflikte. Das sei der „Alptraum schlechthin“, sagt Griesehop, die entsprechenden Regelungen „unglaublich kompliziert“.
Klagegrund Nummer eins sind aber die Kosten für die Unterkunft. Denn Miete und Betriebskosten werden nur in voller Höhe übernommen, wenn diese Aufwendungen „angemessen“ sind. Was das konkret bedeutet, ist bis heute gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt, obwohl diese Frage schwerwiegende Konsequenzen haben kann: Wer in einer als zu teuer befundenen Wohnung lebt, kann zum Umzug gezwungen werden.
Zwar hat die von der Linkspartei geführte Sozialverwaltung durchgesetzt, dass Betroffene in Berlin erst nach einem Jahr in eine andere Wohnung umziehen müssen, wenn die vorgeschriebene Mietobergrenze überschritten wird, aber prompt wurde man dafür vom Bundessozialgericht zur Kasse gebeten. Denn nach Bundesrecht wird ein Umzug schon nach sechs Monaten notwendig, und das Land Berlin musste schließlich im Dezember eine Rückforderung des Bundes in Höhe von rund 13 Millionen Euro begleichen. Doch auch wenn Berlin in der Frage der Unterkunftskosten eine vergleichsweise soziale Politik verfolgt, liegt die Hauptstadt bei Hartz-IV-Verfahren auf Platz eins. Weitere wichtige Klagegründe sind die nicht fristgerechte Bearbeitung von Anträgen und Widersprüchen, die Anrechnung von Einkommen und die Rückforderung zu viel bewilligter Leistungen.
Wer sich gegen einen fehlerhaften Hartz-IV-Bescheid oder gegen behördliche Untätigkeit zur Wehr setzen will, sollte die gesetzlichen Fristen einhalten. „Ein Widerspruch muss innerhalb eines Monats ab Zugang des Bescheides eingelegt werden“, sagt Anwältin Griesehop. Wird dieser binnen dreier Monate nicht entschieden, könne man eine Untätigkeitsklage beim Sozialgericht einreichen. Bei nicht bearbeiteten Anträgen müsse man hingegen sechs Monate warten. Das Gute dabei ist: „Es fallen weder Gerichts- noch sonstige Kosten an.“ Wer wolle, könne ohne Anwalt vor Gericht ziehen, die Richter des Sozialgerichts gingen dem Sachverhalt von Amts wegen akribisch nach.
Wer indes auf Beistand eines Anwalts nicht verzichten will, kann bei Bedürftigkeit auch Prozesskostenhilfe beantragen. Man sollte aber wissen, so Griesehop, dass dazu ein weiteres Kriterium komme: „Es muss Aussicht auf Erfolg der Klage oder des Antrags bestehen.“ Das werde zusammen summarisch geprüft und die Kostenübernahme am Ende „oft abgelehnt“. Laut Griesehop kann anwaltliche Hilfe allein von Vorteil sein, um das Verfahren zu beschleunigen. „Es macht einen anderen Eindruck, ob ein Rechtsanwalt ein Schreiben verfasst oder der Betroffene selber.“ Weil die Hartz-IV-Klagen in Berlin durchschnittlich zehn Monate dauern, sei es sinnvoll, vor Gericht einen Antrag auf ein beschleunigtes Verfahren zu stellen. Auch hierbei könne die Zusammenarbeit mit einem Anwalt helfen. „Wichtig ist aber, dass er sich tatsächlich gut mit der speziellen Materie auskennt.“ Griesehop rät deshalb, sich bei der Suche nach Fachanwälten für Sozialrecht von der Berliner Rechtsanwaltskammer helfen zu lassen.
Das Berliner Sozialgericht steuert derweil auf die Marke von 100.000 Hartz-IV-Verfahren zu. Immerhin aber erledigen sich fast 80 Prozent dieser Klagen am Ende ohne Richterspruch, und die Richter werden zu Schlichtern, weil die Kläger im Laufe des Verfahrens erkennen, dass ihnen der geltend gemachte Anspruch nicht zusteht, die Behörden einsehen, dass sie einen Fehler gemacht haben oder die Streitparteien einen Kompromiss finden.
■ Weitere Infos: Sozialgericht Berlin, Invalidenstraße 52, 10557 Berlin, Tel. (030) 9 01 65-0. Rechtsanwaltskammer Berlin, Littenstr. 9, 10179 Berlin, Tel. (030) 30 69 31-0, www.rak-berlin.de.