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Archiv-Artikel

Freischütz auf dem Dorfe

FREUDE In Klein Leppin wohnen sechzig Menschen. Einmal im Jahr inszenieren sie eine Oper. Alle machen mit

AUS KLEIN LEPPIN WALTRAUD SCHWAB (TEXT) UND MIRIAM FREUDIG (FOTOS)

Eine Handvoll Häuser, eine Bushaltestelle, eine Wiese mit Schafen, sechzig Einwohner. Und in der Mitte des Weilers – fast wie ein Schloss – der Schweinestall des ehemaligen Gutshofs, der Schweinestall der ehemaligen LPG. Klein Leppin heißt der Ort. Klein, kleiner. Seit 2007 wird einmal im Jahr, in diesem winzigen Flecken hundert Kilometer nordwestlich von Berlin, eine Oper aufgeführt. Oper – so groß. Größer geht es kaum. King Arthur, Papageno, Romeo, Julia, Hermia, Lysander, Orpheus, Eurydike – Hochkultur trifft Provinz. „Es hat sich so ergeben“, sagt Christine Tast. Es ist wie Weihnachten im Sommer, mit Vorfreude, mit Anspannung. Fast alle im Dorf machen mit.

Der Werner Lang etwa. Schiebermütze auf dem Kopf, Blaumann am Körper. Mit dem Fahrrad fährt er gerade in den Wald, er ist der einzige Mensch auf der Straße. „Ja, alle sind dabei“, sagt er. „Ich habe den Schuss gemacht letztes Jahr.“ Den Schuss im Wildschütz. „Und meine Schwester kocht.“ Dieses Sommer-Weihnachten hat alles: Hochkultur und Genuss.

Christine und Steffen Tast wohnen neben dem Schweinestall. Fast zwanzig Jahre ist es her, dass die Quedlinburgerin und der Berliner mit ihrer damals noch kleinen Tochter in das Dorf – idyllisch, idyllischer – gezogen sind, nicht so lange nach dem Mauerfall also. Die Kraniche schreien. Auch der Kuckuck ist zurück. Schlüsselblumen, die echten, die mit ihren gelben, nickenden Kelchen, breiten sich zwischen den Steinplatten vor der Terrasse aus. „Wenn der Kuckuck wieder ruft, weiß ich, jetzt beginnen die Proben.“

Steffen Tast ist Musiker im Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Christine Tast, Innenarchitektin, sei „mehr so vom Bau“. Wenn Musikerkollegen beim Renovieren des alten Backsteinhauses, in das die Tasts zogen, mitgeholfen haben, gab es im Garten mitunter noch eine Probe und manchmal auch ein Ständchen für die Nachbarinnen, die mit Kuchen dazu kamen. Auf jeden Fall wurden die Tasts schnell Klein Leppiner und waren keine Zugezogenen mehr, weil sie sich einbrachten. In einem Dorf, in dem es einen Schweinestall und eine Bushaltestelle und sonst nichts gibt, sind Gartenkonzerte für die Seele. Ganz allmählich weitete sich das mit der Musik aus. Ein Projekt mit Schulkindern, nicht nur den eigenen, ein Musikumzug. „Es hat sich so ergeben“, sagt Christine Tast wieder. „Es hat mit Freude zu tun.“

Und hinterm hölzernen Lattenzaun steht der Schweinestall.

„Als wir kamen, fragten wir, wann der Stall“ – ein Gebäudemonster, ein Güllepalast – „abgerissen wird.“ Es soll wieder im Garten beim Frühstücken mit Nachbarn gewesen sein, dass einer sagte, „bevor jemand von außen kommt und da was rein setzt, sollten wir selber was machen“. Wer genau das war, lässt sich nicht mehr sagen. Der Satz war da, die Idee war da und eine Nachbarin, „die, die für uns die Buchhaltung macht“, sagte: „Ja, das sollten wir machen!“ An dieses „Ja, das sollten wir machen“ erinnert sich Christine Tast genau. Es klingt, als sei es der Startschuss gewesen, der einen Schweinestall in ein „Festspielhaus“ verwandelte. Zehn Jahre ist das her. Die Leute im Dorf misteten ihn aus. Kalkten ihn. Alles nach und nach. Da hatte das Dorf also plötzlich eine Halle – der Treuhand mühsam abverhandelt. Christine Tasts Schwiegervater, der Musiker an der Komischen Oper in Berlin war, warf das Schlüsselwort in die Runde: „Macht doch Oper.“ 2007, der Freischütz war die erste.

Christine Tast zeigt das Festspielhaus. Die Bühne für die diesjährige Aufführung von Maurice Ravels „Das Kind und die Zauberdinge“ steht schon. Es ist ein Steg, der sich verwinkelt durch den etwa vierhundert Quadratmeter großen Raum zieht. Darauf wird das Kind, das nicht lernen will, der verzauberten Welt begegnen. Ravels Oper gilt als Kinderoper, „aber das muss sie nicht sein“, sagt Tast. Das Bühnenbild macht klar: Jeder Erwachsene kann ein Kind sein. Denn die Zuschauer sitzen bei der Aufführung nun tief unter den Stegen. Ihr Blick auf das Geschehen wird so sein wie der von Kindern, „die knapp über die Tischkante schauen.“ Und eng wird es werden im Festspielsaal. Damit es nicht zu eng wird, haben die Klein Leppiner den Güllegraben ausgebaut. Dort wird das Orchester drin sitzen.

Die drei „Stalljungen“ – so werden sie scherzhaft genannt – kommen vorbei, grüßen, stecken die Stecker zusammen, damit man ein Gefühl für die Beleuchtung bekommt. Indirekt, hinter der groben Lattenverschalung verläuft sie. Die „Stalljungen“ sind übers Arbeitsamt finanzierte Festspielarbeiter, Bühnenarbeiter. Jungen für alles.

In manchen Jahren hätten sie die Aufführungen auch im Freien gemacht – die Tribüne perfekt aus Europaletten zusammengebaut – „aber das Wetter“. Spielt es mit? Spielt es nicht mit? Das sei so eine Anspannung. Die Oper im Dorf wird ja nur an einem Wochenende aufgeführt, wenn es verregnet ist, sei es schlimm. Die Freude getrübt. Deshalb nehmen sie lieber die Enge im Stall in Kauf, denn viele Leute pilgerten mittlerweile am Festspielwochenende nach Klein Leppin. Zwischen 600 und 800 Zuschauer, verteilt auf vier Aufführungen.

Um das Projekt zu stemmen, hat Steffen Tast einen Klein Leppiner Opernchor gegründet. Kollegen und Kolleginnen des Orchesters machen ebenfalls mit. Ein paar Solisten sind dabei, eine Opernregisseurin, Mira Ebert, die lange in Stuttgart inszeniert hatte. Sie sei froh gewesen, mal in einem uneitlen Rahmen so ein Projekt zu machen, nicht nur in der „Opernweltblase“. Aufwandsentschädigung für die Professionellen: hundert Euro. Aber viel mehr Mitmachende werden gebraucht. 150 etwa. Das geht weit über Klein Leppin hinaus. „Es führt ganz viele Leute zusammen.“ Tast, diese bodenständige, freundliche Frau, ist die Zentrale des Ganzen, „sowas wie die Produktionsleiterin“. Sie muss für die Mitwirkenden da sein, die Bauanträge machen, zusehen, dass niemand während der Proben, den Aufführungen hungrig ist, und dass die Nerven nicht reißen.

Ob sich das Dorf durch die Festspiele verändert? „Ich kann das nicht beantworten. Ich bin zu nah dran“, sagt Tast. Sie vermutet, dass jeder im Dorf dadurch einen neuen Platz bekommt und dass etwas, das wertlos schien, nun wertvoll ist. „Das macht Mut.“ Und die Widrigkeiten? Die Antwort ist klar: das Geld. Und warum machen sie die Aufführung nicht öfter, das könnte die Finanzlage entspannen? „Weil sonst das Funkeln aufhört.“ Niemand, antwortet Tast, soll sagen: „Ach nee, dieses Wochenende schon wieder.“

Das Festspielwochenende in Klein Leppin findet vom 14. bis 16. Juni statt, Informationen: www.dorf-macht-oper.de. Die Fotografin Miriam Freudig hat das Projekt „Dorf macht Oper“ zwei Jahre lang begleitet. Von 9. Mai bis 19. Juli sind ihre Fotos in der Galerie Stadtinsel in Havelberg ausgestellt