REVOLUTION DER MEDIEN
: Twitter, was ist das?

Da stehen wir, die geballte linksradikale Herrschaftskritik

Am 1. Mai treffe ich Freunde am Mariannenplatz. Hier startet die nicht angemeldete Demo, um das vom Bezirksamt verordnete Ballermannsaufen durch politische Agitation aufzumischen. Wir verpassen die Demo, die überpünktlich losgeht, um der mit Faustschlägen deeskalierenden Polizei zu entkommen. Also hinterher, aber wir finden den aufständischen Mob nicht. Der ist verschwunden zwischen Riot-Cops in Mackerhaltung, betrunkenen und in Hauseingänge urinierenden Partypeople und Sprechgesänge grölenden Trotzkisten. Jetzt bräuchten wir die im Arabischen Frühling beschworenen digitalen Netzwerke im Handtaschenformat. Aber keiner hat Zugriff auf ein revolutionäres GPS.

Da stehen wir, die geballte linksradikale Herrschaftskritik mit Doktortiteln, sündteuren Stipendien und viel Demoerfahrung – von Naziblockaden über Gipfelkrawalle bis in die Eingeweide autonomer Protestgeschichte in Wackersdorf. Aber keiner hat einen Twitter-Account. Nur die jüngste der Gruppe hat ein Smart-Phone. Twittern kann sie aber auch nicht.

In Kairo und London zwingt man mit Blackberry autoritäre Regime in die Knie oder buchstabiert die soziale Implosion im Spätkapitalismus aus. In Kreuzberg sind wir von dieser revolutionären Effizienz weit entfernt. Diskursanalytisch auf der Höhe der Zeit sind wir, aber eine unangemeldete Demo finden wir nicht.

Wie kriegen es die Kairoer Jugendlichen und das Londoner Subproletariat hin, technisch so versiert zu sein? Wahrscheinlich sollten wir statt eines Theorie-Lesekreises eine handfeste Twitter-Schulung organisieren. Und wir sollten uns bei Twitter anmelden, statt auf die zur „DGB 2.0 Demo“ verkommene angemeldete 1.-Mai-Demo gehen. Wer weiß, dann klappt es vielleicht endlich mal mit dem widerständigen Antikapitalismus.

FLORIAN SCHMID