piwik no script img

Archiv-Artikel

Der ländliche Raum zum Selbermachen

DIE FORDERUNG Neue Wege der Daseinsvorsorge in schrumpfenden Regionen: wie wir von der Fixiertheit auf Zentren wegkommen. Der Staat muss Gesetze ändern, vor allem die Länder

Die AutorInnen

Kerstin Faber, freie Planerin und Urbanistin, ist Dozentin am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) im Fachbereich Städtebau und Mitinhaberin des Projektbüros Franz Faber in Leipzig.

Philipp Oswalt, Architekt und Publizist, ist Professor für Architekturtheorie und Entwerfen an der Universität Kassel und seit 2009 Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau.

VON KERSTIN FABER UND PHILIPP OSWALT

Der demografische Wandel rührt an ein Versprechen des Grundgesetzes. Dort ist die „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ in ganz Deutschland fest garantiert. Als der vormalige Bundespräsident Horst Köhler vor nunmehr neun Jahren bemerkte, dass den Subventionsstaat zementiere, wer die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in Deutschland einebnen wolle, schlug ihm eine Welle der Empörung entgegen. Seitdem hat sich in der Politik wenig verändert. Niemand, der auf dem Land lebe, brauche Angst zu haben, von der Teilhabe abgeschnitten zu werden, heißt es. Die Praxis in dünn besiedelten Regionen sieht hingegen längst anders aus: Schulen werden geschlossen, Bahn- und Buslinien stillgelegt und die technische Infrastruktur wird zunehmend teurer.

Wie kann vor dem Hintergrund der Schrumpfung die Daseinsvorsorge im ländlichen Raum in Zukunft gestaltet werden? Das Festhalten am Status quo ist keine Option, da mit geringer werdender Bevölkerungsdichte die Kosten staatlicher Daseinsvorsorge steigen, bis sie nicht mehr zu finanzieren sind. Doch das Weniger-Werden kann auch nicht als bloße Reduktion verstanden werden. Es erfordert vielmehr ein Umdenken.

Aufbauend auf dem Zentrale-Orte-Prinzip sind die Aufgaben der Daseinsvorsorge bisher hierarchisch und territorial gegliedert. Ein alternatives Leitbild für die Organisation könnte eine regionale „Cloud“ sein: Wie man sich heute daran gewöhnt, Daten und Programme in eine gemeinschaftliche Rechnerwolke auszulagern, die sich vernetzte Personen und Institutionen dann teilen, könnten benachbarte Kommunen und ihre Bewohner gleichermaßen die Daseinsvorsorge in einer nichthierarchischen, gemeinschaftlichen Wolke selbst organisieren – über Kreis- und Ländergrenzen hinweg.

Die Idee der regionalen Cloud ist mit einem starken gesellschaftlichen Engagement verbunden. Jeder Konsument kann ganz unhierarchisch auch Produzent von Leistungen werden. Eine Bedingung dafür ist, dass sich die staatlichen Instanzen nicht zurückziehen, sondern neu formieren. Der kooperative Gewährleistungsstaat erbringt dann nicht mehr – wie bisher der Leistungsstaat – alle Dienstleistungen selbst, sondern ermöglicht es den Bürgern, sich produktiv für das örtliche Gemeinwesen zu engagieren. Ein klassisches Beispiel für das erfolgreiche Ineinandergreifen von zivilgesellschaftlichem und staatlichem Engagement sind die Freiwilligen Feuerwehren.

Im Modell des Gewährleistungsstaates sind dazu aber auch die bürokratischen Regulierungen zu hinterfragen. Anstatt einheitliche Standards und Gesetze durchzusetzen, sind Öffnungen und Förderungen nötig, um lokal adäquat mit mehr bürgerschaftlicher Selbstverantwortung schnell und flexibel reagieren zu können.

Ein Beispiel: Die Aufhebung technischer Anschluss- und Benutzungszwänge in den Gemeindeordnungen der Länder zugunsten ländlicher Eigeninitiative ermöglicht dezentrale Ver- und Entsorgungsstrukturen, die für die Bewohner tragfähiger sind – im Bereich der Wärmeversorgung und des Recyclings auch einen ökologischen und wirtschaftlichen Mehrwert darstellen können.

Zahlen und Termine

■ Im ländlichen Raum leben 18 Prozent der Bevölkerung auf 60 Prozent der Fläche, so das Bundesinstitut für Raumforschung. Das Insitut bietet einige Karten und katalogisiert von „sehr peripher“ bis „sehr zentral“. Mit den peripheren Städten sind es dann schon 30 Prozent der Deutschen auf etwa drei Viertel der Landesfläche. Die Abgrenzung ist jedoch kompliziert. Keine Region will sich selbst als zu dünn besiedelt aufgeben, deshalb gibt es nur wenige zukunftsweisende Entwürfe für Lösungen.

■ Das 2013 erschienene Buch „Raumpioniere in ländlichen Regionen. Neue Wege der Daseinsvorsorge“ sondiert die Lage der Regionen und skizziert Auswege, auch anhand einiger Beispiele. Es wurde im Verlag Spector Books Leipzig von den Auroren herausgegeben und kostet 25 Euro.

■ Termine: 12. Mai, 15 Uhr, Stiftung Bauhaus Dessau, Podiumsdiskussion „Was können wir uns noch leisten?“ mit Raumpionieren, Politikern und Zukunftsforschern. Und am 14. Juni, 17.30 Uhr, Markthalle Neun in Berlin: Buchvorstellung und Gespräch mit Raumpionieren.

■ Hinweise zum Thema Bürgerbus: http://www.pro-buergerbus-nrw.de/

Die Öffnung der Landesschulgesetzgebungen für mehr kommunale Eigenverantwortung in der Schulbildung, Organisation und Budgetierung gibt den ländlichen Gemeinden Flexibilität in der Umsetzung neuer Schulkonzepte unter demografischen Bedingungen. Die Selbstverwaltung hätte zudem den Vorteil, die Beteiligung durch Elterninitiativen und weitere lokale Akteure direkt zu befördern. So könnte gemeinsam vor Ort über den Erhalt oder die Gründung von Freien Schulen, Schulverbünden, über altersgemischten Unterricht oder dezentrale Lerngruppen entschieden werden – auch gemeinde-, kreis oder länderübergreifend.

Und zur Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs könnte eine direkte Förderung für Bürgerbusse im ÖPNV-Gesetz der Länder, die den Vereinen eine jährliche Organisationspauschale und die Anschaffung von Kleinbussen zusichert, die Gründung und den Betrieb von Bürgerbusnetzwerken erleichtern. Die beispielhafte Unterstützung führte in den ländlichen Räumen Nordrhein-Westfalens zur Gründung von über 100 Bürgerbusnetzwerken von insgesamt 200 deutschlandweit.

Die Zukunft der Daseinsvorsorge in ländlichen Regionen erfordert nicht nur ein neues Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft, auch die räumliche Zersplitterung in eine Vielzahl unabhängiger, oft konkurrierender Räume, Interessen und Verantwortlichkeiten muss überwunden werden. Arbeitsteilig zu handeln, Synergien und Ressourcen zu nutzen, Wissen zugänglich zu machen, gleichzeitig ein hohes Maß an Eigenverantwortung zuzulassen und zu fördern, das wäre eine Chance für schrumpfende Regionen. Dafür steht das Prinzip der Cloud.