: Text, Satz und Spiel
SPRACHKONZERTE Das diesjährige Theatertreffen zeigt gut, wie das Postdramatische einem neuen Virtuosentum den Boden bereitet
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Man könnte sie auch Komponisten nennen, die Regisseure und Regisseurinnen, die dieses Jahr zum Theatertreffen eingeladen sind. Denn es ist in einem hohen Grad ein Gespür für die Struktur und Dynamik, das den Inszenierungen eine große Musikalität verleiht. Das fällt auf, wenn man ihre Stücke in Berlin nacheinander sehen kann. Dieses Gespür ist einerseits gerade da von großer Bedeutung, wo Romane und Erzählungen bearbeitet werden. Und es ist andererseits blanke Notwendigkeit bei Texten, die wie „Murmel Murmel“ von Dieter Roth aus der Wiederholung eines einzigen Wortes bestehen oder, wie „Die Straße. Die Stadt. Der Überfall“ von Elfriede Jelinek, aus fast 100 Seiten punktarmen und rollenlosen Sätzen.
Die Postdramatik mag als Figur der Innovation und als Aufreger in der Theorie ausgedient haben; im Handwerk der Theatermacher aber differenziert sie sich aus und bereitet den Boden für ein großes Virtuosentum von Schauspielern und Regisseuren.
Das gilt sicher für Herbert Fritschs Sprachkonzert „Murmel Murmel“, das witzigste Stück abstrakter Kunst, das in Berlin je auf die Bühne kam. Und es gilt für Johan Simons Inszenierung von Jelineks Text über die Mode und die von ihr entzündeten Verlangen. Besonders bei Simons und dem Ensemble der Münchner Kammerspiele ist die Kunstfertigkeit zu bewundern, zu Sätzen, die nur schwer erraten lassen, wer hier spricht, dennoch eine punktgenaue Verkörperung zu finden, ein Schaulaufen der unangenehmen Empfindungen, nicht zu genügen, den eigenen Ansprüchen und denen der anderen. Ein kalt glitzerndes Sprachkonzert.
Von einer ganz anderen emotionalen Beschaffenheit ist dann „Reise durch die Nacht“ vom Schauspiel Köln, das einen Tag nach Jelinek zu sehen ist. Die Inszenierung von Katie Mitchell beruht auf einer Erzählung von Friederike Mayröcker. Eine nächtliche Zugfahrt und der Gedankenstrom einer Schlaflosen in einem der Abteile fließen zusammen in einer großartigen visuellen Komposition. Auf einer Leinwand, die schmal und langgezogen ist wie der Waggon des Eisenbahnzuges, der unter ihr nachgebaut ist, sieht man einerseits die vorbeiziehende Dunkelheit draußen, andererseits Großaufnahmen der Schlaflosen (Julia Wieniger).
Sie ist verstummt, ihre Gedanken fahren, vom Rhythmus der Fahrt angetrieben, Karussell. Eine zweite Schauspielerin, Ruth Marie Kröger, spricht sie in einem anderen Abteil ins Mikrofon. Etwas, das sie aus ihrer Vergangenheit rekonstruieren will, eine Episode der Kindheit, ein entscheidendes Detail, entgleitet ihr immer wieder und das belastet sie mindestens so wie die Aufdeckung eines Verbrechens. Abgeschnitten von der Erinnerung, agiert sie schließlich, als wäre sie gar nicht mehr beteiligt. Wie Mitchell die Bewegung des Zuges und den wiederkehrenden Absturz der Gedanken ineinanderschneidet, ist von einer traurigen Schönheit. Es ist Literatur, Hörstück, Theater, Film in einem und dabei anders, als sich mit den Mitteln einer Kunstgattung allein erzählen ließe.
Eine bloße Nacherzählung von Literatur auf der Bühne ist ja oft unerquicklich. Doch das kann man weder Mitchell vorwerfen noch Luc Perceval, der am Thalia Theater Hamburg Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“ dramatisiert hat, oder Sebastian Hartmann vom Centraltheater Leipzig mit seinem „Krieg und Frieden“ nach Tolstoi. Hartmanns Projekt scheint dabei zunächst die größte Herausforderung anzunehmen: Er springt aus dem Roman in die Selbstkritik und den Zweifel Tolstois am eigenen Werk. Die Spannung und die Verständlichkeit bleiben dabei nicht durchgängig erhalten, kehren aber immer wieder zurück.
Überraschender aber ist, mit welcher emotionalen Bedrängung Luk Perceval „Jeder stirbt für sich allein“ inszeniert hat, eine herzzerreißende Geschichte um die Einsamkeit und die Angst im Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Die erzwungene Anonymität, ein äußeres Versteinern, das um ein Haar auch zum Absterben der Gedanken geführt hätte, ist der Ausgangspunkt der Inszenierung und ein wiederkehrendes Bild, wenn das ganze Ensemble über die Bühne läuft, als wäre jeder konzentriert nur auf die eigene Sache. Es scheint so schlicht, so geradlinig, so zwingend, wie hier Szene auf Szene folgt, und ist doch Ergebnis eines ungeheuer präzisen Spiels und Timings.