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Archiv-Artikel

Als die Filmfestspiele laufen lernten

ZEITREISE Damals, hinterm Mond: ein Blick zurück auf das allererste Programm der Berlinale, aus Anlass ihres 60. Jubiläums

Die Grenze der illegalen Migration verläuft damals in Europa, zwischen Italien und Frankreich

VON EKKEHARD KNÖRER

Zwei Männer im Raumanzug, einer rot, einer blau, betreten nach beinahe schiefgegangener Landung die Oberfläche des Mondes. Der erste Mensch auf dem Mond spricht die folgenden historischen Worte: „Mit Gottes Gnade und im Namen der Vereinigten Staaten von Amerika nehme ich im Auftrag und zum Nutzen der ganzen Menschheit diesen Planeten in Besitz.“ So sah die Zukunft damals aus, im ersten halbwegs realistischen Sci-Fi-Film, der sich und seinen Zuschauern den ersten bemannten Mondflug vorzustellen versuchte. Die Romanvorlage war von Robert Heinlein, Irving Pichel war der Regisseur, „Destination Moon“ der Titel und zu sehen war das aus heutiger Sicht etwas krude, aber effektive Werk vor sechzig Jahren im ersten Wettbewerb der Berlinale.

Kommende Woche starten die Berliner Filmfestspiele. Der runde Geburtstag ist ein guter Anlass, einmal auf das allererste Programm von 1951 zurückzublicken. Sieht man heute einen Film wie „Destination Moon“, wird einem schlagartig klar, wie verdammt schwer vorstellbar die Vergangenheit ist. Man kann heute kaum noch ahnen, was die damals im Titania-Palast in Berlin-Steglitz mutmaßlich gebannt auf die Leinwand blickenden Menschen da gesehen haben. Man müsste sich, um das Staunen zu begreifen, das sie sicher erfasste, die ganze Zukunft wegdenken. Die erste Mondlandung achtzehn Jahre später, die berühmten Worte Neil Armstrongs, zum Glück von Norman Mailer, nicht von Robert Heinlein geschrieben. Und mehr noch: Man muss auch die Weltraumfilme der Zukunft für den Moment vergessen, Stanley Kubricks Meisterwerk „2001“ nicht zuletzt.

Geliebt und gerettet

Die in die Zukunft gerichtete Fantasie hat ihre Grenzen im gegenwärtig Unvorstellbaren. Mit der Vergangenheit ist es komplizierter. Will man sich vorstellen, wie es sich anfühlte, damals zu leben, muss man sich alles wegdenken, was man inzwischen übers damals Zukünftige weiß. Aber man müsste eigentlich auch den Wissens- und Erinnerungsstand der damals Lebenden haben.

So werden nicht wenige der in den Berliner Westen geströmten Zuschauer beim Anblick von Heidemarie Hatheyer in Rolf Hansens Heuler „Dr. Holl“ unweigerlich einen anderen Film vor Augen gehabt haben. Zehn Jahre zuvor spielte Hatheyer nämlich – wie unheimlicherweise 1951 dann Maria Schell – eine Todkranke, in Wolfgang Liebeneiners Machwerk „Ich klage an“.

Maria Schell, schon ganz das tränenselige Seelchen, wird von Doktor Holl (Dieter Borsche) geliebt und gerettet. Hatheyer aber musste zehn Jahre zuvor sterben, aus ideologischen Gründen: „Ich klage an“ ist einer der übelsten Propagandafilme der Nazis, ein vernünftig daherkommendes Plädoyer für die Euthanasie. Seit einem Jahr erst war das Berufsverbot für Hatheyer aufgehoben (sie kam in der Bundesrepublik später noch zu mancher Ehre).

Ähnliches galt für die Verfasserin des Drehbuchs, Thea von Harbou. Was wäre die deutsche Filmgeschichte ohne sie! Autorin der Filme Fritz Langs in den Zwanzigerjahren. 1929 bereits schickte Lang nach Harbous Vorlage in seinem letzten Stummfilm „Die Frau im Mond“ einen ersten Reisetrupp – in der Tat: mit Frau! – auf den Mond. Ein paar Jahre später war von Harbou dann freudig übergelaufen zu den Nazis, dabei produktiv wie zuvor. Und, schwupps, schon ist sie im ersten Berlinale-Jahr mit der Erzschnulze „Dr. Holl“ wieder da. Da passt es bestens, dass auch die diesjährige Jubiläums-Berlinale um eine Hommage nicht herumkommt. Live übertragen auf einer Leinwand am Brandenburger Tor gibt es „Metropolis“, endlich wiederhergestellt, nach dem Drehbuch von Thea von Harbou. Das ist die List der Geschichte.

Die Preis-Jury des ersten Berlinale-Jahrgangs war eine etwas windige Sache. Cannes und Venedig als die damals noch einzigen A-Festivals protestierten, denn Möchtegern-Großfestivals wie das in Berlin durften eigentlich nur Publikumspreise vergeben. Andererseits hatte die Jury sehr viel zu tun: Nicht weniger als fünf Goldene Bären gab es, schön aufgeteilt auf die Genres Drama, Komödie, Musik-, Kriminal-, Dokumentarfilm. In der Rubrik Drama siegte ein Werk, über das sich der aktuelle Berlinale-Leiter Dieter Kosslick bestimmt gefreut hätte. Die Schweizer Produktion „Die Vier im Jeep“ von Leopold Lindtberg taugt künstlerisch herzlich wenig, hat aber starken politischen Gegenwartsbezug. Eine etwas wirre Geschichte aus dem internationalen Sektor von Wien um vier Soldaten, eine Frau und noch einen aus sowjetischer Gefangenschaft geflohenen österreichischen Soldaten. Die sowjetische Seite kommt nicht gut weg. Mehr als Ort und Zeit hat der Film nicht mit Carol Reeds Klassiker „Der Dritte Mann“ gemein. Greifbar ist er heute nur in miserabelster Qualität im 20-Film-„Combat Pack“ aus den USA. Auch Filme haben ihre Schicksale.

Die Meisterwerke folgen auf den weiteren Plätzen. Nur Bronze bekommt der britische Regisseur Anthony Asquith mit seiner unendlich eleganten Verfilmung eines Theaterstücks, „The Browning Version“. Zu politischen Fragen der Zeit hat der Film keinen ausdrücklichen Bezug. Niemand hindert freilich das in Berlin versammelte Publikum, die hier geschilderten selbstverschuldeten Verheerungen einer Menschenseele auch auf sich zu beziehen.

Ein Zeitbild dagegen, im Gegensatz zu „Die Vier im Jeep“ auch ein großartiges, ist „Weg der Hoffnung“ des italienischen Regisseurs Piedro Germi. Er erzählt von der Migration eines halben sizilianischen Dorfes Richtung Frankreich. Eine Mine droht geschlossen zu werden, die Bergarbeiter streiken, dann fliehen sie und werfen einem Menschenschmuggler ihr Geld in den Rachen. Germi, der heute vor allem als Komödienregisseur in Erinnerung ist („Scheidung auf italienisch“), zeigt in neorealistischer Manier das Italien des Jahrs 1950 und findet großartige Bilder für den abrupten Wechsel von Stillstand und Flucht. „Weg der Hoffnung“ ist ein klassischer Film über das Los von Menschen, die da, wo sie leben wollen, verhungern, und die da, wo sie zu überleben hoffen, nicht erwünscht sind. Die Grenze der illegalen Migration verläuft damals noch mitten durch Europa. In den Bergen zwischen Italien und Frankreich werden die Fliehenden von Grenzsoldaten auf Skiern gestellt.

Den Hauptpreis 1951 gewann das wirre Drama „Die Vier im Jeep“ – die Meisterwerke folgten dahinter

Auch die Berlinale selbst ist 1951 von einer zwar unsichtbaren, aber ganz klaren Grenze durchzogen. Ins Leben gerufen vom US-Filmoffizier Oscar Martay, ist sie eindeutig ein Reeducation-Projekt aus amerikanischem Geist. Ihr erster und bis 1976 amtierender Leiter Alfred Bauer war zwar im Dritten Reich für die UFA tätig, dadurch aber offenbar nicht belastet. Der erste Wettbewerbsjahrgang bestand ausschließlich aus europäischen und amerikanischen Filmen – Werke aus dem sich formierenden Ostblock kamen ganz ausdrücklich und sehr lange noch nicht in Frage. Werke aus Japan, Indien, Afrika, Südamerika gibt es nach und nach in den folgenden Berlinale-Jahrgängen zu sehen. Der erste osteuropäische Film aber gelangt erst zwei Jahre vor der tatsächlichen Mondlandung, im Wettbewerb 1967, zur Aufführung: eine jugoslawische Produktion, Zivojin Pavlović’ „Die Ratten erwachen“.

Großer Bronzeteller

Nicht nur im ersten Jahrgang gibt es dafür reichlich Amerikanisches. Zweimal gleich Disney zum Auftakt im Jahr 1951: Der Goldene Bär in der „Musikfilm“-Rubrik und der Publikumspreis („Großer Bronzeteller“) gehen an „Cinderella“, die erste Großproduktion des Studios seit „Bambi“ acht Jahre zuvor. Und auch den Dokumentar-Bären erhält ein Disney-Werk, James Algars dreißigminütiger Naturfilm „Beaver Valley“.

Sehr viel mehr über die amerikanische Gegenwartsgesellschaft gibt es dagegen in Mitchell Leisens ziemlich hinreißender und screwballnaher Komödie „The Mating Season“ zu erfahren. Mit dem Blick in eine Hamburger-Braterei – McDonald’s als Kette existiert damals noch nicht – beginnt der Film. Rasant jedoch wechselt er die Milieus. Ein braver Angestellter rettet einer jungen Frau aus bester Gesellschaft das Leben. Die Liebe folgt auf dem Fuß und ein nicht geringer Teil des Films erzählt von den Schwierigkeiten des jungen Mannes, seiner Ehefrau die niedere Herkunft einzugestehen. Aufgelöst wird das Klassenproblem, versteht sich, in Harmonie.

Das kam zusammen, damals hinterm Mond, im Titania-Palast des Frühsommers 1951: Weltraumfahrt, Hamburger, Thea von Harbou, italienische Migration, amerikanische Märchen, Maria Schell, Dieter Borsche und vier Soldaten im Jeep. Übrigens auch zu sehen war die großartige Animationsabstraktion „Begone Dull Care“ von Norman McLaren zu Oscar-Peterson-Jazz. Auch das war unter den gegebenen Umständen Zukunftsmusik.

Die Berlinale läuft vom 11. bis 21. Februar. Infos: www.berlinale.de