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Archiv-Artikel

FRÜHLINGS ERWACHEN IM THALIA IN DER GAUSSTRASSE Klapperstorch reloaded

Frühlings Erwachen klingt herzerwärmend heiter, ist aber eine Tragödie von Frank Wedekind über die unberechenbar bewegende, einzig revolutionäre Zeit des Lebens: die Pubertät. Acht Schauspielstudenten der Theaterakademie präsentieren sie als Abschlussarbeit ihrer vierjährigen Ausbildung. Das erste Mal, Gewalt in der Familie, Masturbation, Homosexualität, Selbstmord, Ausgrenzung, Geschlechterrollen-Debatte, Fragen nach dem Lebenssinn – alles drin.

Karin Neuhäusers Inszenierung ist ein Kompendium an Hilfestellungen, Haltepunkten, Sprungbrettern für die noch von keiner Routine geschützten Profis. Sie schmeißen ihr Talent gierig suchend auf die Bühne, sind authentisch nah dran an der staunenden Sehnsucht, schüchternen Ungeduld, leidenschaftlichen Grübelei. Finden aber keine Haltung zu Wedekinds überholt anti-wilhelminischer Polemik.

Eine hochgradig autoritäre Erziehung, tabubeladene Moral, eine mit Klapperstorchgeschichten aufklärende Mutter, dazu eine illegale Schwangerschaftsabbruch-Hexerin und völlige Unmündigkeit der Figuren in Sexualdingen – das wirkt in unserer übersexualisierten, extrem aufgeklärten Gegenwart recht seltsam.

So wird die Aufführung mit reichlich Literaturzitaten, Jugendjargon und popmusikalischen Kommentaren zu zeitlos aktuellem Jugendtheater collagiert: wild und zart, vibrierend verunsichert. Locker verklemmte Tobejungs möchten Musketiere werden, die gegen die Matrix kämpfen. Gackermädchen debattieren über ihre Blutungen, weibliche Rollenklischees und wollen zum Thema Blowjob vor allem eines wissen: Wie viel Kalorien hat Sperma? Wedekinds Karikaturen der Erwachsenenwelt, die Sozialisation als uniformierende Abrichtung verstehen, werden hier voller Verständnis dargestellt: hilflos gegenüber den jugendlichen Nöten. Die Suche nach coolem Selbstbewusstsein endet in ratloser Erkenntnis: Ich ist ein anderer, Identität eine Illusion, der freie Wille ein Scheißdreck. Aber der Lenz ist nun mal da, knospende Lebenslust.JENS FISCHER