: Medikamententests mit Kindern
Bei Arzneimitteln sind Kinderärzte häufig auf Schätzungen angewiesen. Denn nur wenige Medikamente sind auf ihre Kindertauglichkeit getestet. Pharmafirmen sollen jetzt dazu gebracht werden, mehr Arzneimittel für die Jüngsten anzubieten
VON KLAUS-PETER GÖRLITZER
Die Europäische Union (EU) will Pharmahersteller verpflichten, neue Arzneien grundsätzlich auch an Kindern und Jugendlichen zu erproben. Dies sieht ein Verordnungsentwurf der EU-Kommission vor, der voraussichtlich im Herbst dieses Jahres verabschiedet werden soll. Tests an Minderjährigen sollen außerdem obligatorisch werden, wenn Unternehmen für bereits zugelassene Medikamente neue Indikationen, Dosen oder Darreichungsformen beantragen.
Firmen, die Arzneistudien mit Kindern betreiben, können mit finanziellen Vorteilen rechnen: Die Marktexklusivität für das geprüfte Präparat würde laut Verordnung um sechs Monate verlängert – und zwar auch dann, wenn das Ergebnis negativ ausfallen, also das getestete Medikament sich als ungeeignet für Minderjährige erweisen sollte.
Die Hersteller müssen ihre Studienpläne einem „Pädiatrieausschuss“ vorlegen, der bei der europäischen Arzneimittel-Zulassungsagentur Emea eingerichtet werden soll. Der Ausschuss, besetzt auch mit Repräsentanten von Kinderärzten und Patientenorganisationen, wird eine Schlüsselrolle spielen: Er entscheidet, für welche Altersgruppen ein Hersteller ein Präparat testen soll. Und er definiert ein „Inventar“ des „Therapiebedarfs“ von Kindern.
Die Verordnung werde helfen, den Forschungs- und Entwicklungsstandort Europa international wettbewerbsfähig zu machen, meint die EU-Kommission. Aus medizinischer Sicht gerechtfertigt werden die Versuche an Kindern mit der Notwendigkeit, Arzneimittel sicherer zu machen. Nach Darstellung des Marburger Professors Hannsjörg W. Seyberth gibt es für rund 70 Prozent der in der Kinderheilkunde eingesetzten Medikamente „keine gesicherten wissenschaftlichen Daten“ – mangels Studien müssten sich Kinderärzte häufig auf Erfahrungswerte verlassen und Präparate verordnen, die zwar für Erwachsene, nicht aber speziell für Minderjährige zugelassen seien. „Das Fehlen einer klinischen Prüfung im Kindes- und Jugendalter“, schrieb Seyberth schon im Juli 2000 im Deutschen Ärzteblatt, „führt dazu, dass bestimmte Arzneimittel im Kindesalter nicht angewendet werden und damit Kindern potenziell wirksame Arzneistoffe vorenthalten werden“.
Allerdings fehlt hierzulande noch immer eine öffentliche Übersicht, aus der hervorgeht, gegen welche Krankheiten und bei welchen Wirkstoffen konkrete Versorgungslücken bestehen. Für Transparenz hätte eigentlich ein Expertengremium sorgen sollen, das im April 2002 vom Bundesgesundheitsministerium einberufen worden war. Die Gruppe unter Vorsitz von Seyberth sollte das Fachwissen über den Einsatz von Arzneimitteln in der Kinder- und Jugendmedizin aufbereiten und feststellen, welche verfügbaren Präparate zur Anwendung bei Minderjährigen „geeignet erscheinen“, auch wenn sie dafür nicht behördlich zugelassen sind.
Die Liste steht noch aus, und das ehrenamtliche Expertengremium existiert seit 2004 nicht mehr. Warum der Arbeitsauftrag offenbar unerfüllt blieb, dazu gibt es unterschiedliche Darstellungen. Seyberth beklagt mangelnde Unterstützung von Seiten des Gesundheitsministeriums und des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Dagegen schrieb der frühere BfArM-Präsident Harald Schweim in der Pharmazeutischen Zeitung, die berufenen Experten hätten sich einfach „andere Prioritäten“ gesetzt, etwa „strukturelle Initiativen“ zur Änderung des Arzneimittelgesetzes und des Zulassungsverfahrens, um die Rahmenbedingungen für klinische Studien zu verbessern.
Dazu beitragen will auch das Bundesforschungsministerium. Es fördert seit Herbst 2002 das „Kompetenznetzwerk Paed-Net“, um eine „Infrastruktur für multizentrische Studien in der Pädiatrie“ aufzubauen. Beteiligt sind bisher Unikliniken in Freiburg, Heidelberg, Köln, Leipzig, Mainz und Münster. Sie sollen im Rahmen von Paed-Net klinische Studien entwerfen und durchführen, junge Versuchsteilnehmer rekrutieren und Kinderärzte in Praxen und Krankenhäusern zum Mitmachen motivieren.
Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) bilanziert, allein in den Jahren 2004 und 2005 seien 43 Arzneimittel für Kinder und Jugendliche zugelassen worden, beispielsweise zur Behandlung von Diabetes, Epilepsie, Asthma oder Übergewicht. Dennoch mangele es an jungen Probanden. „Gerade die Teilnahme von Kindern an klinischen Prüfungen ist ein hoch sensibles Thema“, informiert der VFA auf seiner Homepage. „Viele Eltern schrecken davor zurück, aus Angst, ihre Kinder würden als Versuchskaninchen eingesetzt.“ Die mitunter mühsame Pflichtaufgabe, Mutter und Vater einer ausgeguckten Testperson aufzuklären und zu überzeugen, möchte der VFA gern erleichtert sehen: „Überlegt“ werden solle, „ob nicht in Akutfällen die Einwilligung eines Elternteils neben der Zustimmung des Kindes ausreicht“.
Ausführliche Nachfragen können indes nicht schaden – zumal inzwischen auch möglich ist, was in der Bundesrepublik jahrzehntelang tabu war: die Teilnahme kranker Kinder an Medikamententests, die ihnen persönlich weder Heilung noch Linderung bringen können. Das im August 2004 novellierte Arzneimittelgesetz verlangt nur, dass die klinische Prüfung „für die Gruppe der Patienten, die an der gleichen Krankheit leiden wie die betroffene Person, mit einem direkten Nutzen verbunden“ sein müsse.
In der Praxis kann „gruppennützige Forschung“ zum Beispiel so ablaufen: Einem Teil der kleinen Probanden wird das Testpräparat verabreicht, während die Kontrollgruppe ein Placebo (Scheinmedikament) erhält Fragwürdig ist dieses Vorgehen vor allem, wenn eine Arznei gegen eine Krankheit erprobt werden soll, für die es eine wirksame Standardtherapie längst gibt.