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Archiv-Artikel

Selbstjustiz am Spargelfeld

BRANDENBURG Als am Rand von Kremmen zwei polnische Saisonarbeiter von Anwohnern überfallen werden, schlagen die Wogen hoch. Bricht sich hier Fremdenfeindlichkeit Bahn? Lokalpolitiker sprechen von Einzelfall, Berliner Antifa demonstriert. Ein Ortstermin

„Ich sehe keine ausländerfeindliche Stimmung“

STAATSSEKRETÄR RUDOLF ZEEB (SPD)

VON PLUTONIA PLARRE

Der Marktplatz von Kremmen ist fast leer, als der Reisebus vorfährt. Die Türen gehen auf, und eine Schar von Menschen mit schwarzen Kapuzenpullis, Basecaps und Sonnenbrillen ergießt sich aufs Trottoir. Es ist ein bisschen, als sei ein Raumschiff gelandet. Die Neuankömmlinge hieven Stangen und Transparente aus dem Kofferraum und bauen sich im Halbkreis vor dem Rathaus auf. Rund 40 Berliner Anhänger von Antifa, VVN und „Fight Racism Now!“ sind an diesem Dienstagabend nach Kremmen, Landkreis Oberhavel gekommen, um gegen Rassismus zu demonstrieren. Hier waren am Montag vor einer Woche zwei Polen Opfer von Selbstjustiz geworden.

Als Täter gelten vier Anwohner aus Kremmen. Gegen die Männer, darunter Vater und Sohn, wird wegen gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung ermittelt: Sie sollen die polnischen Saisonarbeiter gefesselt und verschleppt haben, weil sie sie eines Einbruchs verdächtigten. Der Vorfall hat hohe Wellen geschlagen.

Innenminister Dietmar Woidke (SPD) entschuldigte sich am Freitag bei Polens Botschafter Jerzy Marganski für den „unsäglichen Vorfall“. Kremmens Bürgermeister Klaus-Jürgen Sasse (SPD) überbrachte den Opfern im Namen der Stadt eine persönliche Entschuldigung. Ein bedauerlicher Einzelfall, sagten Sasse und der Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung, Detlef Reckin (SPD), immer wieder in die Mikrofone, als die Medien das Rathaus stürmten. In Kremmen gebe es keinen Rechtsextremismus, keine Fremdenfeindlichkeit. Der Linken-Stadtverordnete Reiner Tietz drückte den Journalisten eine 2006 von der Stadtverordnetenversammlung verabschiedete „Kremmener Erklärung“ in die Hand. Sie proklamiert „weltoffenes und solidarisches Leben in unserer Region“.

Eine vage Beschreibung

Was genau war geschehen? Die Polizei schildert es so: Am 13. Mai versuchen drei unbekannte Männer in ein Einfamilienhaus im Kremmener Ortsteil Staffelde einzubrechen. Es ist gegen 9.20 Uhr morgens. Die Besitzerin sieht die Täter, bevor diese ins Haus gelangen. Sie flüchten in den nahe gelegenen Wald. Bei einer „Nahbereichsfahndung“ ermittelt die Polizei vier polnische Arbeiter auf einem 1,5 Kilometer entfernten Spargelfeld, auf die die Beschreibung der Kleidung „vage“ passt. Es gibt jedoch keine Übereinstimmung mit den am Tatort gefundenen Spuren. Die vier werden wieder entlassen. Zur weiteren Fahndung wird ein Hubschrauber eingesetzt, der den Wald mit einer Wärmebildkamera überfliegt – ergebnislos.

Dann, am Abend, sind drei andere polnische Spargelstecher auf dem Heimweg zu ihrer Unterkunft. Ein Nachbar der Frau, die den versuchten Einbruch gemeldet hat, hält sie für die Gesuchten, laut Polizei macht er das an der Farbe ihrer Kleidung fest. Der Mann holt Unterstützung: Schließlich stoppen vier Kremmener in zwei Pkws die Polen, die zu Fuß unterwegs sind. Einem der Saisonarbeiter gelingt es, zu fliehen. Von der Unterkunft aus ruft er die Polizei.

Der Notruf geht um 19.18 Uhr ein. Um 19.41 Uhr kommen die Beamten zu dem Grundstück, wo die beiden 36 und 23 Jahre alten Polen von den Deutschen zu einer „Gegenüberstellung“ mit der Nachbarin verschleppt worden sind. „Sie waren mit Gartenschläuchen an Holzpaletten gefesselt und hatten Verletzungsspuren im Gesicht“, sagt eine Polizeisprecherin gegenüber der taz. Die Frau habe die beiden als Täter ausgeschlossen.

Die von der Polizeidirektion Brandenburg Nord am Tag nach dem Vorfall verbreitete Medieninformation endet mit einer erstaunlichen Anmerkung: Aus rechtlicher Sicht sei das Verhalten der Kremmener Bürger „sehr sorgfältig zu prüfen“. Einerseits stelle die Zunahme von Wohnungseinbrüchen im Berliner Umland für Bürger und Polizei ein erhebliches Problem dar. „Aufmerksame Nachbarn und Anwohner bilden hier – ausdrücklich auch aus Sicht der Polizei – den wirksamsten Schutz“, heißt es. Andererseits bestehe die Gefahr, dass Unschuldige verfolgt würden und die Erntehelfer aufgrund ihrer Herkunft stigmatisiert würden.

Die Polizei fährt fort: Gemäß Paragraf 127 Strafprozessordnung sei „jedermann“ befugt, einen Tatverdächtigen „auf frischer Tat oder auf anschließender Flucht“ vorläufig festzunehmen. Dann aber solle unmittelbar die Polizei alarmiert werden. „Lynchjustiz“ sei nicht im Sinne des Rechtsstaats. „Insofern prüfen die Kriminalpolizei Oberhavel und die Staatsanwaltschaft Neuruppin den Fall besonders sorgfältig– aber auch ohne Vorverurteilung der Kremmener Bürger.“

„Besoffene Idioten“

In Kremmen selbst drückt man sich weniger vorsichtig aus. „Das waren besoffene Idioten“, sagen Leute auf der Straße. Der Fall hat sich rumgesprochen. Nicht nur beim Bürgermeister, auch bei Spargelbauer Malte Voigts geben sich noch Tage nach dem Vorfall die Medien die Klinke in die Hand. Nach der taz hat sich das polnische Fernsehen angesagt. Voigts kommt aus dem niedersächsischen Uelzen, vor ein paar Jahren hat er den Betrieb von der Rhinland Agrargesellschaft übernommen. Auf 170 Hektar baut er Spargel an, dazu beschäftigt er rund 200 Saisonkräfte aus Polen, alles Männer. Die Arbeit auf dem Feld bei Wind und Wetter ist extrem. Voigts sagt, er zahle 8,50 bis 15 Euro die Stunde, aber es gebe auch einen Kiloanreiz: Wer schnell arbeite, könne 200 Euro täglich verdienen.

Viele seiner Arbeiter kommen seit Jahren, so Voigts, auch die von der Selbstjustiz betroffenen Männer. Voigts spricht von einem unfassbaren Vorfall. Nach der Stimmung in den Unterkünften gefragt, sagt er: „Die Tat hat die Leute natürlich geschockt.“ Die Betroffenen hätten gar nicht gewusst, worum es geht, weil sie kein Deutsch sprechen. „Sie dachten, sie werden entführt.“ Aber mit der Presse wolle keiner von ihnen mehr reden. „Sie wollen zur Normalität zurück.“ Der mutmaßliche Haupttäter sei auf dem Feld gewesen und habe sich entschuldigt. Voigts sagt, er kenne den Mann. Er wolle ihn nicht in Schutz nehmen, Selbstjustiz, könne man „natürlich nicht dulden“. Aber: „Der war stark alkoholisiert und wollte seiner Nachbarin helfen.“

Nein, abgereist sei von den Saisonarbeitern keiner, sagt Katarina Iwan, die seit vier Jahren auf dem Spargelhof als polnische Vorarbeiterin tätig ist. Der Vorfall sei für Kremmen auch gänzlich untypisch. Einzelfälle gebe es überall. „Wir fühlen uns hier sehr gut aufgenommen. Alle Leute sind freundlich“.

Stadtverordnetenvorsteher Reckin unterstützt das voll und ganz. In Kremmen gebe es „null Ressentiments“ gegen die Spargelstecher, „absolut null“. Für den Lokalpolitiker ist das nicht weiter verwunderlich: „Die verhalten sich völlig unauffällig. Gehen einmal am Tag zu Aldi oder Lidl und fallen abends erschöpft ins Bett. Von den Deutschen würde die Arbeit doch keiner machen.“

Nicht nur in Kremmen, im gesamten Speckgürtel hätten Einbrüche stark zugenommen, sagt Bürgermeister Sasse. „Das war zu erwarten, wenn sich Europa öffnet, bei dem Wohlstandsgefälle.“ Aber die Spargelstecher seien die Letzten, den man das anlasten könne.

Gefühl der Bedrohung

Angesprochen auf die Einbrüche, sagt Potsdams Innenstaatssekretär Rudolf Zeeb (SPD), „multiethnische Tätergruppen“ seien am Werke. Damit meint er auch Deutsche. „Egal wie die Zahlen sind, die Betroffenen fühlen sich bedroht“, hat Zeeb beobachtet. „Aber ich sehe keine ausländerfeindliche Stimmung.“ Brandenburgs Polizeipräsident Arne Feuring hat keine Anhaltspunkte dafür, dass Ressentiments gegen Polen zugenommen haben. Den Fall in Kremmen hält er für einen einmaligen Vorgang.

„Schluss mit dem rassistischen Bürgermob“ steht auf den Fahnen der Antifa-Gruppen am Dienstagabend. Die Berliner sind spät dran, auf der Autobahn gab es Stau, jetzt sind nur noch wenige Kremmener unterwegs. Einer ist der DJ Frank Liedke. Er hält den Demonstranten ein improvisiertes Pappschild entgegen, auf das er geschrieben hat: „Mein Mitgefühl gilt Maltes Arbeitern. Ich verachte Einbrecher.“

Linken-Stadtverordneter Tietz versucht zu erklären, dass der Vorfall mit Rassismus nichts zu tun habe. „Das war eine Verwechslung“ sagt er. „Verharmlosung“, schnaubt ein Antifa. „Ihr seid überheblich“, empört sich Tietz. „Weil ihr es nicht auf die Reihe kriegt“, schallt zurück.

Da der Marktplatz leer ist, wollen die Demonstranten noch zum Spargelhof laufen. Ein Einsatzleiter der Polizei untersagt ihnen das. Leicht frustriert steigen sie wieder in den Bus.