: Das Glück, überlebt zu haben
ORAL HISTORY Mehr als 150 Gespräche mit Berliner Zeitzeugen des Nationalsozialismus hat Magdalena Kemper für ihre Radiosendung geführt. Elf sind jetzt im Hörbuch „Damals wünschte ich mir goldene Locken“ erschienen
VON CHRISTINA STEENKEN
„Was wird aus mir werden, wenn die mich je fassen?“ Gisele Freund ist 1933 auf der Flucht nach Paris, als sie sich diese Frage stellt. Eben noch hat sie an der Universität Frankfurt Soziologie bei den Besten studiert: Mannheim, Elias und Adorno sind ihre Lehrer. Doch die Professoren werden von den Nationalsozialisten aufgrund ihrer jüdischen Herkunft mit Berufsverbot belegt. Nach Veröffentlichung einiger kritischer Texte drängt die Zeit, Gisele Freund emigriert nach Paris. In ihrem Koffer ist ihr wichtigstes Gut, ihre Leica-Kamera. Mit ihr beginnt sie, erste Reportagen zu fotografieren und später auch die europäische Kulturavantgarde. Fotos unter anderem von Virginia Woolf und James Joyce sind es, die sie zu einer berühmten Fotografin machen.
Gisele Freund ist eine der vielen Zeitzeugen des Nationalsozialismus, die die Hörfunkredakteurin Magdalena Kemper über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren interviewte. Mehr als 150 Gespräche hat sie für die Radiosendung „Das Gespräch“ geführt, wovon elf nun in einem Hörbuch „Damals wünschte ich mir goldene Locken“ erschienen sind, darunter mit Hilde Domin, Margot Friedländer und dem Macher des Kinos Dahlem, Gerhard Klein. „Es sind keine Auschwitz-Überlebenden, die hier zu Wort kommen“, berichtet Kemper gleich zu Beginn ihrer Präsentation im Buchhändlerkeller in Berlin-Charlottenburg und stellt klar, dass es in ihrem Hörbuch nicht um die Erfahrung der Konzentrationslager geht, sondern um Themen wie Ausgrenzung, Lebensbedrohung und um das Glück, den Nationalsozialismus überlebt zu haben: „Die Erzählungen enden nicht 1945, sie fangen neu an“, sagt Kemper. Alle ihre Gesprächspartner haben einen Bezug zu Berlin, wurden entweder hier geboren oder sind hier aufgewachsen, mussten dann aber fliehen oder versteckten sich im Berliner Untergrund.
Zu Letzteren zählt Inge Deutschkron, die den Nationalsozialismus überlebte, weil Menschen ihr geholfen haben. „Geben Sie mir ein Versprechen, lassen Sie sich nicht deportieren“, hatte eine befreundete Wäscherin sie und ihre Mutter gebeten. „Wir wissen jetzt, was mit den Juden im Osten passiert.“ Ein Nachbarsjunge war aus dem Krieg aus Polen zurückgekommen und hatte über die Konzentrationslager berichtet. Mitte Januar 1943 gingen Deutschkron und ihre Mutter in die Illegalität. Zunächst kommen sie bei der Wäscherin und ihrem Mann in der Knesebeckstraße 17 unter, müssen aber ihr Versteck öfter wechseln. Menschen wie der Wäscherin hat Inge Deutschkron mit ihrem Bericht ein Denkmal gesetzt, sagt Magdalena Kemper, die für die Erinnerungen dankbar ist.
Rund 1600 Juden waren es, die während des Krieges in Berlin untertauchten und häufig die Unterstützung der „guten“ Deutschen brauchten, die sich trotz harter Gesetze für eine Form des Widerstands, das Verstecken von Juden, selber in größte Gefahr brachten. Einige wenige gab es.
Das Glück, überlebt zu haben, für die meisten Gesprächspartner ist es auch nach langer Zeit ein Wunder. Doch der 8. Mai 1945 ist nicht der Tag der Erlösung. Nach Ende des Krieges ist da vor allem die Frage nach der Familie – was ist mit den Angehörigen geschehen? Die Realisierung, oft der einzige Überlebende des Holocausts einer Familie zu sein oder die Ernüchterung darüber, die selben alten Nazis wieder in wichtigen Positionen des Staates aufzufinden, sind Themen, die im Hörbuch auftauchen.
Magdalena Kemper ist mit ihrem Audiobook eine eindrucksvolle Zusammenstellung der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts gelungen. Ihre Interviewpartner berichten von den alltäglichen Kränkungen und Demütigungen, vom Ignorieren und von der Gleichgültigkeit ihrer Mitmenschen damals. Ein Privileg des Hörfunks ist die Möglichkeit, Emotionen direkt zu vermitteln: ein Seufzen, längere Pausen oder ein Kichern kommen direkt beim Hörer an und schaffen so einen anschaulichen und lebhaften Eindruck.
Als Nachkriegskind hatte Kemper eine besondere Motivation, die Gespräche mit den Zeitzeugen zu führen. 1947 geboren, gehörte sie der Generation an, die im Geschichtsunterricht die Punischen Kriege der Antike viermal durchnahm, sodass „einfach keine Zeit mehr für den Nationalsozialismus blieb“, wie sie ironisch bemerkt. Fragen blieben von Lehrern und Eltern unbeantwortet, weshalb Magdalena Kemper sich schließlich ihre Antworten bei den Zeitzeugen selber suchte.
Einfühlsam porträtiert Kemper ihre Gesprächspartner, dabei aber immer professionell: das heißt still sein in Momenten von tiefer Betroffenheit des Gegenübers und sich ein „Es tut mir schrecklich leid“ verkneifen.
Eines ist bei allen Interviewpartnern gleichermaßen faszinierend: Auch wenn sie ihre Jugend unter schlimmsten Bedingungen verbracht haben, haben sie die Lust am Leben nicht verloren. Inge Deutschkron etwa sagt : „Um die Jugend hat man mich betrogen. Aber ich behaupte mal, ich hole sie jetzt nach.“
■ Magdalena Kemper: „Als Kind wünschte ich mir goldene Locken“. Gespräche mit Überlebenden der Shoah. 4 CDs mit Booklet, Der Audio Verlag/RBB, Berlin 2013, Laufzeit ca. 318 Minuten, 19,99 Euro
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