ULRICH PELTZERS ROMAN „DIE SÜNDEN DER FAULHEIT“ ERZÄHLT, WIE ES WAR IN WESTBERLIN : In Berlin trank jeder, oder nahm Drogen
VON ULRICH GUTMAIR
Die Musik von Negazione war zu schnell für uns. Und die Lederjacken der frisch geduschten Züri-Punks sahen aus, als hingen noch die Preisschilder dran. Die bewusstseinsverändernde Substanz aus schweizerischer Produktion drängte uns zum Rausgehen. Also hingen wir vor dem Saal am Helvetiaplatz herum.
Alles war angemessen bunt und verwirrend, als die Mädchen einen mit Edding auf die Mauer gemalten Spruch entdeckten: „In Berlin trank jeder, oder nahm Drogen. Wer es nicht tat, war schon tot oder lebte nicht mehr hier. Kadaverstadt. Man musste sich rechtzeitig entscheiden“, stand da zu lesen. Und es wurde gelesen! Eins ums andere Mal beteten die Girls die Sätze runter, fanden einen Rhythmus für ihren Rap und lachten immer hysterischer. Ich habe mir nur den ersten Satz gemerkt. Der aber hat sich in die Rinde gebrannt und meldet sich seit 1988 hin und wieder bei mir zurück.
Hier könnte die Geschichte zu Ende sein, hätte ich nicht vor zwei Wochen mit Pollenvergiftung zu Hause gesessen und innerhalb von zwei Tagen den ersten Roman von Ulrich Peltzer aus dem Jahr 1987 gelesen, der die Schnelligkeit und Handlungsdichte eines Krimis mit präzisen Beobachtungen von Menschen im alten Westberlin verbindet – und noch dazu unglaublich gut geschrieben ist. Eben wurde er als Fischer-Taschenbuch wiederveröffentlicht: unbedingt kaufen!
Dann kam der Moment, an dem ich eine Seite umblätterte und ein komisches Gefühl hatte: Hoppla, irgendwas ist los. Das Sensorium sprang an, als sei eine Raubkatze in der Nähe. Und da stand es: „In Berlin trank jeder, oder nahm Drogen“, und so weiter. Als mich zwei Tage später Simone anrief, das erste Mal seit gefühlt zwanzig Jahren, habe ich mich schon nicht mehr gewundert. Wenn die Kanäle erst mal offen sind, dann fließt es auch.
Auf der Züricher Mauer erschienen die Sätze Ulrich Peltzers wie ein Klischee. Liest man 25 Jahre später die Quelle des Zitats, dann verwandelt sich das Klischee in eine Wahrheit zurück über das Westberlin der Achtziger, an dem es nur vier, fünf Kneipen gab, in die man gehen konnte, sagt Ulrich Peltzer heute, weil die bürgerliche Gesellschaft noch existierte und die Lebensläufe noch nicht zwangsbohemisiert waren.
Der Held von „Die Sünden der Faulheit“ heißt Bernhard Lacan und hat sein Vorbild in einem SFB-Moderator, der wie wild zockte, irgendwann vom Barhocker fiel und wenig später starb. Lacan ist ein paradigmatischer junger Mann dieser Zeit. Die Götter haben ihn mit vielen Gaben beschenkt, die er aber nicht nutzen kann oder will. Um ihn herum regiert der blanke Materialismus. Keiner glaubt mehr an irgendwas in dieser Gesellschaft. Alle Beziehungen stehen unter Vorbehalt.
Je weniger das Tun und Lassen der Leute durch höhere Werte verbrämt wird, umso nackter treten die Klassenschranken hervor. Vor allem aber zeigt sich das schäbige, weil unverhältnismäßige, wenn nicht sinnlose Gewinnstreben der Mittelklasse. Nichts gegen „gesunden Wettbewerb“, aber man sollte schon wissen, wofür man arbeitet.
Davon kann in Nachkriegsdeutschland keine Rede sein, weswegen die Westberliner Dropouts umso exzessiver leben. Seine Kaputtheit der Gesellschaft als Spiegel vorzuhalten, bringt einen auf Dauer aber auch nicht weiter. Weswegen Ulrich Peltzers Held sich rechtzeitig entscheidet. Vielleicht wird er Teil einer Patchworkfamilie. Man weiß es nicht genau.