: „Einmal war Frau Zschäpe dran“
NSU-PROZESS Mit Carsten S. sagt der erste Angeklagte aus. Er berichtet über seine Kontakte mit dem NSU-Trio
Carsten S.
AUS MÜNCHEN WOLF SCHMIDT
Bis 15.44 Uhr dauerte am Dienstag wieder das juristische Gerangel. Dann kam es doch noch dazu, dass mit Carsten S. der erste Angeklagte im NSU-Prozess mit seiner Aussage begann. An den bisherigen Verhandlungstagen saß Carsten S. ganz hinten in der Ecke. Für seine Vernehmung hat ihn das Gericht nun eine Reihe nach vorne gesetzt, direkt hinter die Hauptangeklagte Beate Zschäpe, zwei Stühle von Ralf Wohlleben entfernt, den Carsten S. mit seinen Aussagen schwer belastet. Ihren Blicken weicht S. aus. Er schaut durchgehend auf den Vorsitzenden Richter.
Für die rechtsextreme Szene ist Carsten S. ein Verräter. Der 33-Jährige ist angeklagt wegen Beihilfe zum Mord. Er hat in der Untersuchungshaft zugegeben, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos Ende 1999 oder Anfang 2000 in einem Abbruchhaus in Chemnitz eine Ceska-Pistole samt Schalldämpfer übergeben zu haben – jene Waffe, mit der die NSU-Terroristen neun ihrer zehn Morde begingen. Strippenzieher beim Beschaffen der Pistole soll der Neonazi Wohlleben gewesen sein.
Reinen Tisch wolle er im Prozess machen, kündigten die Verteidiger von Carsten S. im Vorfeld seiner Vernehmung an. Am Nachmittag schilderte Carsten S. zunächst ausführlich seine Biografie. Es ist die eines jungen Mannes, der während seiner Jugend sein Schwulsein verdrängte und unter einem strengen Vater litt. Mit 16 kam er in Kontakt mit der rechtsextremen Szene in Jena. Im Frühjahr 1997 seien sie auf eine große Neonazidemo in München gefahren: „Das hat mir sehr imponiert.“
Er sei dann selber zum Funktionär in der rechtsextremen Szene geworden, so Carsten S. 1999 sei er Stellvertreter des nun mitangeklagten Ralf Wohlleben an der Spitze des NPD-Kreisverbands Jena geworden. Im Jahr 2000 habe er zudem die Jugendorganisation der Partei in Jena geleitet, die JN, und sei für wenige Monate Vizebundesgeschäftsführer der Organisation gewesen.
Mit den späteren mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe sei er im Januar 1998 mal auf einer Demo in Erfurt gewesen, zuvor hätten sie sich einige Male in Privatwohnungen getroffen. Dann seien sie untergetaucht.
Wohlleben und ein anderer Neonazi hätten ihn dann gefragt, ob er ihnen helfen könne. Er habe von einer Telefonzelle aus mit einem Handy Kontakt zu den drei Abgetauchten aufgenommen. „Mindestens einmal war auch die Frau Zschäpe am Telefon“, sagte Carsten S.
Zum eigentlichen Vorwurf der Ankläger – Beihilfe zum Mord wegen der Waffenlieferung – sagte Carsten S. bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nichts aus.
Dagegen schilderte er detailliert, wie er zum „schwulen Aussteiger“ aus der Szene geworden sei. Seit seinem 13. Lebensjahr habe er seine Homosexualität verdrängt, doch irgendwann sei das nicht mehr gegangen. Er könne sich noch daran erinnern, dass er im Jahr 2000 in der Wohnung von Wohlleben gesessen habe und dieser einen blöden Spruch übers Schwulsein gemacht habe. Da habe er gewusst: „Das sind nicht deine Leute.“
Wenige Monate nach der Waffenlieferung an den NSU stieg er aus dem Rechtsextremismus aus und bekannte sich offen zu seiner Homosexualität. 2003 zog er nach Nordrhein-Westfalen, wo er Sozialpädagogik studierte und schließlich für die Aidshilfe arbeitete.
Knapp drei Monate nach Auffliegen des NSU nahmen ihn am 1. Februar 2012 Spezialkräfte der GSG 9 in Düsseldorf fest. Bis Mai 2012 saß er in Untersuchungshaft, seitdem ist er im Zeugenschutzprogramm des Bundeskriminalamts.
Carsten S. war noch keine 21, als er dem NSU die Waffe brachte, rechtlich also ein Heranwachsender. Seine Aussage könnte ihm einen Strafrabatt einbringen.