DIE EINE FRAGE : Nicht wählen?
SOLL MAN IM SEPTEMBER DIE BUNDESTAGSWAHL VERWEIGERN, UM SEINEN WIDERSTAND KUNDZUTUN?
Meine Kollegin Bettina Gaus hat zuletzt an dieser Stelle analysiert, woher es kommt, dass die kommende Bundestagswahl in einem „Ozean von Gleichgültigkeit“ versinke. Ihrer Einschätzung nach müsste sich die SPD von der Mitte nach links bewegen, um Nichtwähler zurückzuholen.
In diesem Zusammenhang äußerte sie, ohne sich anzuschließen, Sympathie für den Soziologen Harald Welzer, der zum ersten Mal in seinem Leben die Wahl verweigert. Er nennt das im Spiegel einen „Akt der Aufkündigung des Einverständnisses“ mit den parteipolitischen Verhältnissen. CDU/SPD/Grüne/Linke hätten austauschbare Positionen, stünden aber für nichts, was mit zukunftsfähiger Politik zu tun habe in puncto Finanzkrise, Klimawandel, Energie- und Ressourcenkrise sowie der Entmachtung von Staat und Demokratie durch die Finanzmärkte. Wer wählt, argumentiert Welzer, bejahe nur den Fortgang eines illusionären Schmierentheaters.
Und wer nicht wählt, ist ein Widerständler, der Parteien und Politiker dazu bringt, in sich zu gehen, Buße zu tun und umzukehren?
Es gibt ja längst einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung, der sich der bürgerlichen Pflicht des Wählens entzieht – weil er deklassiert ist und sich von diesen Parteien nichts mehr erhofft. Oder weil er zwar Geld und Status hat, aber kein Interesse. Oder weil es regnet. Welzer repräsentiert den Deutschen am anderen Ende dieser Spektren. Der gebildet ist, ökonomisch gut gestellt und bürgerlich engagiert. Sein Nichtwählen soll nicht Apathie oder selbstgefälligen Überdruss ausdrücken. Er will öffentlich intervenieren, wie es sich für einen besorgten Intellektuellen gehört. Aber was sollte daraus folgen? Steinbrück beruft einen SPD-Sachverständigen für „Zukunft“ in sein Kompetenzteam – doch wer sollte das sein? Frau Roth entschuldigt sich für die fehlenden Inhalte?
Am Ende haben eine Million engagierte Nichtwähler die FDP in der Regierung bestätigt, die für Welzer nicht mal mehr eine Partei ist.Wenn man wirklich überzeugt ist, dass es keinen Unterschied macht, dann bitte. Aber man kann beim Vergleich der Politikangebote sehr wohl zu der Überzeugung gelangen, dass neben der europäischen Dimension dieser Wahl eine entscheidende Zukunftsfrage eben doch davon abhängen könnte. Die Energiewende. Es geht darum, ob der Juniorpartner von Merkel den Jahrhundertjob voranbringen will – oder die Interessen der (Kohle-)Konzerne. Wem das zu popelig ist, bitte. Aber hat er den Schuss gehört?
Nun könnte man sagen: Jeder hergelaufene Zukunftsverweigerer macht eine eigene Partei auf. Warum gründet Welzer keine Postwachstumspartei (PWP) und beschäftigt sich seriös mit den anstehenden Themen? Rhetorische Frage: So wie wir die Weltretter auf dem Moralticket kennengelernt haben, würden sie die PWP umgehend infiltrieren, Abspaltungen vornehmen (UPWP, LPWP, Wahre PWP) und Koalitionen untereinander für alle Zeiten ausschließen, wobei auch das bei je 0,1 Prozent nur Theorie wäre.
Wahlverweigerung hilft nicht, Partei gründen auch nicht: Man muss die Volksparteien Union, SPD und Grüne von innen aufrollen. Wenn nur ein Ökobürger mit dem Niveau von Josef Göppel zur Union ginge, wären es dort schon zwei. Und wenn nur einer zu den Grünen ginge, wären sie dort sogar schon zu dritt.
Praktisch eine Bewegung.
■ Peter Unfried ist taz-Chefreporter