DVDESK : Charleston, ganz fabelhaft
„Das Narrenschiff“ (USA 1965, Regie: Stanley Kramer), ab ca. 13 Euro im Handel
Von Veracruz aus sticht im Jahr 1933 dies Narrenschiff in See. An Bord sind Darstellerinnen und Darsteller wie Vivien Leigh, Simone Signoret, José Ferrer, Oskar Werner, Lee Marvin – und auch Heinz Rühmann. Ein Kessel Buntes also auf dem Weg nach Bremerhaven, in ein Land, in dem die Nazis die Macht gerade ergreifen. Was durchaus eine Rolle spielt unter den zum größeren Teil deutschen Passagieren. Schließlich ist der Bonvivant Rieber Nationalsozialist und schwärmt, die blonde Geliebte an seiner Seite, am Frühstückstisch von der Vernichtung unwerten Lebens. Der Zufall hat ihn mit dem Juden Löwenthal (Heinz Rühmann) in eine Kabine gesteckt, einem Juwelier als echte Rühmannfigur: Er glaubt an das Gute im Menschen und hält die Angst vor den Nazis für sehr übertrieben: „Es gibt eine Million Juden in Deutschland – sollen sie die etwa alle umbringen?“
Oskar Werner, der Schiffsarzt, leidet am Herzen. Simone Signoret hat ein Drogenproblem und weiß den Arzt, aber nicht nur darum, zu schätzen. Ein Kleinwüchsiger (Michael Dunn) spielt den überflüssigen Erzähler und vertritt eventuell noch denkbare weitere Minoritäten. Außerdem hat ein geknechteter junger Mann, der nicht tanzen kann, das erste Mal Sex. Eine junge Frau von sechzehn Jahren verkörpert diffus Unglück. Und Vivien Leigh spielt – in ihrer letzten Rolle – eine Frau, die ihren besseren Jahren hochnäsig nachweint. Sie hat den tollsten Moment dieses Films: Sie tanzt, ohne Publikum, auf dem Kabinengang, für ein paar Sekunden nur, ganz fabelhaft Charleston.
Für acht Oscars war „Das Narrenschiff“ (Verfilmung des einzigen Romans der Kurzgeschichtenautorin Katherine Anne Porter) nominiert. Überhaupt war Regisseur Stanley Kramer eine Oscar-Nominierungs-Fabrik – nicht weniger als 14 verschiedene DarstellerInnen in seinen Filmen hatten das Glück. Das ist auch kein Wunder. Erstens ist er ein engagierter Regisseur, der heikle Themen mit sicherer Hand packt. „Das Urteil von Nürnberg“ ist sein bekanntester Film, „Rat mal, wer zum Essen kommt“ ist eine schöne und war auch eine sehr erfolgreiche Übung in Antirassismus. Zweitens übertreibt er es nicht mit den Subtilitäten. Man kapiert immer gleich, für wen das Herz schlagen soll, die deutliche Figurenzeichnung hilft nach. Und drittens hat er einen sehr spezifischen Begriff von Mise en Scène: Die Kamera gibt Rahmen und Bühne für ausdrucksstarke Schauspielerei. Da kommen keine Inszenierungsideen oder Ellipsen oder andere Fisimatenten dazwischen. Und viel Zeit für den Ausdruck bleibt auch. Darum sind die Filme verlässlich zu lang.
Nun ist „Das Narrenschiff“ nicht im eigentlichen Sinn ein misslungener Film. Das handwerkliche Niveau ist hoch und die meisten sind drauf. Eine Traumschiffversion mit ziemlich viel Politik und ziemlich viel Sex. Die Bösartigkeit kann man hassen, die Gutartigkeit soll man schätzen. Es gibt Melodram, es gibt Witz, es gibt Gesellschaftskritik, es gibt süßsauren Kitsch, und einer der Protagonisten muss sterben. Trotzdem: Obwohl dies Schiff mit Schicksalen, Figuren, allegorischer Gesellschaftsquerschnittsbehauptung bis an den Rand voll ist, bleibt das alles summa summarum beliebig. Ausuferung statt Konzentration. Was eine starke Regisseurshandschrift ist, erkennt man in Kramers Filmen daran, dass sie vollkommen fehlt. EKKEHARD KNÖRER