: „Für die SED war der 17. Juni ein Lernschock“
FORSCHUNG Der Aufstand zwang die Partei, die Interessen der Bevölkerung wieder mehr in den Blick zu nehmen, sagt der Historiker Jens Schöne
■ geb. 1970, ist gelernter Facharbeiter für Tierproduktion. Später studierte er Geschichte und Anglistik an der Humboldt-Uni. 2004 promovierte er an der Freien Universität über die Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft. Schöne ist Stellvertretender Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Berlin. Dieses Jahr erschien sein Buch „Volksaufstand. Der 17. Juni 1953 in Berlin und der DDR“.
Foto: Berlin Story Verlag
taz: Herr Schöne, viele Zeitzeugen des 17. Juni brachen aufgrund ihrer Erfahrungen völlig mit der DDR. Eine typische Reaktion?
Jens Schöne: Auf jeden Fall machte sich unter den Demonstranten große Ernüchterung breit. Der 17. Juni begann mit großer Hoffnung. Die Aufständischen glaubten tatsächlich, sie könnten ihre Ziele vom Ende der SED-Herrschaft bis zur Wiedervereinigung durchsetzen. Viele sahen danach endgültig keine Zukunft mehr in der DDR und gingen in den Westen.
Woher kam denn die Frustration vor dem 17. Juni?
Die SED hatte eine extrem rigide Politik betrieben. Der verschärfte Klassenkampf, den sie auf ihrer II. Parteikonferenz im Juli 52 beschlossen hatte, zog Enteignungen, Vertreibungen und Inhaftierungen in nicht gekanntem Ausmaß nach sich. Kleine Händler, Bauern und Gewerbetreibende wurden mit Steuern und Abgaben überzogen. So wurde die Lebenshaltung immer teurer und das Angebot in den Geschäften immer schlechter. Löhne wurden gekürzt, Arbeitsnormen erhöht, dazu kam ein hohes Maß an politischer Unfreiheit. Dieser Kurs richtete sich frontal gegen die eigene Bevölkerung.
Wieso begann der Aufstand in Berlin ausgerechnet in der damaligen Stalinallee, diesem Prestigeprojekt, wo Paläste für Arbeiter entstehen sollten?
Die Bauarbeiter auf der Stalinallee, das war ein raues Volk. Sie lebten und arbeiteten teilweise unter sehr schlechten Bedingungen. Bei ihnen schlugen Lohnkürzungen und Normerhöhungen ganz unmittelbar durch.
Wie konnte die Wut dieser Leute so schnell befriedet werden?
Mit Zuckerbrot und Peitsche. Es gab Gefängnisstrafen, sogar zwei Todesstrafen, aber es wurden auch Angebote gemacht. Die Normerhöhungen wurden zurückgenommen. Für die SED war der 17. Juni eine Art Lernschock. Sie begriff, dass sie ihren harten Kurs nicht auf Biegen und Brechen durchsetzen konnte. Man entließ Leute aus der Haft, bis Ende des Jahres immerhin knapp 25.000. Man hatte die Interessen der Bevölkerung wieder mehr im Blick, wenn auch nur zum Zwecke der eigenen Machtsicherung.
Wurde nicht auch der Überwachungsapparat verstärkt?
Sogar ganz massiv. Das Ministerium für Staatssicherheit war damals erst gut drei Jahre alt, ein vergleichsweise kleiner Apparat, der relativ improvisiert agierte. Nach dem 17. Juni wurde das Ministerium personell und strukturell ausgebaut, Vorgänge wurden institutionalisiert. So wurde eingeführt, dass das Ministerium regelmäßig Berichte an die Parteiführung schreibt.
Unser Zeitzeuge Klaus Gronau, der ebenfalls demonstrierte, kommt aus einer unpolitischen Familie. Sein Vater wurde vor dem 17. Juni terrorisiert, obwohl er laut der Aussage seines Sohnes nie bei der NSDAP war. Wie typisch ist so ein Familienhintergrund in der DDR der 50er?
Das ist vermutlich eher die Regel gewesen. Durch den harten Kurs der SED haben sich Menschen politisiert, die sich eigentlich als unpolitisch sahen. Das erklärt, warum plötzlich eine Million Menschen in der ganzen Republik unterwegs waren, Leute, die einfach genug hatten. Der Aufstand war ja eine relativ spontane Aktion.
Klaus Gronau lebte damals in der Boxhagener Straße, wenige Minuten von der Stalinallee. Trotzdem interessierte er sich bis zum 17. Juni nicht für diese gigantische, mit Bedeutung aufgeladene Baustelle, er ging lieber rüber nach Kreuzberg ins Kino.
Die Mehrheit der Bevölkerung betrachtete den SED-Staat als absoluten Fremdkörper, die SED-Mitglieder wurden als „Russendiener“ beschimpft. Die meisten empfanden die Teilung Deutschlands vielleicht als gerechte Strafe für die Barbarei im Krieg, aber trotzdem als widernatürlich. Das waren noch keine DDR-Bürger, sondern in erster Linie Deutsche.
Sie haben viel zu einem Kapitel des 17. Juni geforscht, das bislang wenig bekannt ist. Der Aufstand, so schreiben Sie in Ihrem Buch, ging in den Dörfern viel früher los und war viel später unter Kontrolle zu bekommen als in den Städten. Warum?
Keine andere Berufsgruppe hatte unter der Politik der SED mehr gelitten als die Bauern. In den Städten ging es um gekürzte Löhne und Sozialleistungen, um Normerhöhungen. In den Dörfern ging es im Selbstverständnis der Bauern um ihre Existenz. Die Kollektivierung war für die meisten ein Unding. Die bäuerlichen Strukturen hatten sich ja über Jahrhunderte entwickelt – das Verhältnis des Bauern zu seinen Nachbarn, zu seinem Hof und seinen Tieren. Das sollte nun alles zerschlagen werden, noch dazu von Leuten, die keine Ahnung hatten von Landwirtschaft.
Was geschah genau?
Die Wut in den Dörfern war riesig. Es ging dort sofort los, und zwar landesweit spätestens ab dem 12. Juni. Das hängt mit der bäuerlichen Protestkultur zusammen. In der Stadt setzt man sich erst zusammen, fasst einen Entschluss, schreibt eine Resolution, geht noch einmal nach Hause und schläft drüber. In den Dörfern geht es unmittelbar los, das ist schon immer so gewesen.
Die SED-Bonzen wurden verprügelt?
Genau. Und das war ein politisches Statement.INTERVIEW: SUSANNE MESSMER