: Kunst mit Verspätung
Waldemar Grzimeks Nachlass kommt nach Bremen. Bloß: Wer war dieser Waldemar Grzimek? Eine Annäherung
von Benno Schirrmeister
Die Kunst kommt in Sackleinen. Und sie kommt verspätet: Zwei Stunden Wartezeit vorm Backsteinspeicher auf dem ehemaligen Hafengelände, zugig ist es und der Schnee knirscht, als endlich die Laster mit Berliner Kennzeichen auf den Hof rollen. Ein Sattelschlepper mit, ein 7,5-Tonner ohne Anhänger. Drinnen 104 Plastiken, überlebensgroße Gips-Modelle, kleine Bronzen, eingehüllt in Jute und in Pferdedecken. Geschützt von Noppenfolie. Drei Wagenladungen voll – ein Schatz, der mit klammen Fingern ins Lager zu hieven ist. Vorsicht! Das Tor muss ausgemessen werden: Der Heine-Gips, schon ganz schön lädiert, ist zu groß. Er muss nach nebenan. Und bitte, bitte jetzt nicht ausgleiten! So kommt der Nachlass von Waldemar Grzimek nach Bremen.
Waldemar Grzimek? Ein Bildhauer, das ist offensichtlich. Und – ein Nachlass, klar: also ist er auch tot. Aber Bremen? Und hat der etwas mit…? Ja. Er war verwandt mit dem Löwenfilmer und Tierparkdirektor, erstaunlich, welcher Nachruhm sich hält, ein Cousin. Daran lässt sich bestenfalls die Legende anschließen, dass er als elfjähriger Knabe bereits im Berliner Zoo Tontiere modelliert habe: 1929 soll das gewesen sein, gut, gut, aber der künstlerische Durchbruch war’s noch nicht, und über die Person sagt es noch recht wenig. Suchmeldung: Wer war Waldemar Grzimek?
Zeugenbefragung: Die Witwe Lydia Grzimek erinnert sich an ihn als einen „in jeder Beziehung großzügigen Menschen“. Claus Netuschil fällt zunächst die Floskel vom „Wanderer zwischen den Welten“ ein, was erwähnt wird, weil es so wenig zur Bildhauerei nicht zu passen scheint. Stets habe Grzimek, als er Professor in Darmstadt war, wo er aber nie gewohnt hat, einen gepackten Koffer mitgeführt, auch in der Uni – „nie sesshaft, immer unterwegs, immer auf Reisen“. Dann erzählt Netuschil wie er selbst sich zögerlich, seinerzeit noch ein blutjunger Galerist, es muss in den 1970er Jahren gewesen sein, dem „nicht besonders kommunikativen“ Grzimek genähert habe: „Das war damals ein großer Mann“, sagt Netuschil. Es klingt noch immer ehrfürchtig.
Richard Heß, selbst Bildhauer, längst Professor und berühmt, wenn man als figürlicher Bildhauer berühmt werden kann, gehörte seinerzeit zu Grzimeks Assistenten. Eine „echte Persönlichkeit“ nennt er ihn, „nicht so ein Weihnachtsmann“, die es ja mitunter auch gebe. Anfeindungen sei vielleicht ein zu starkes Wort, für das Misstrauen, das dem Staatspreisträger der DDR von 1950 bei seinem Wechsel entgegenschlug. Aber Bernhard Heiliger, dessen Meisterschüler er, Heß, gewesen ist, habe gezürnt. „Der Heiliger“, so sagt Heß, „der war echt sauer.“ Was „der da aus dem Osten“ denn hier wolle, habe sein Ex-Lehrer geflucht. „Neid“, findet Heß, „gibt es häufig unter Künstlern“, weil man ja „immer kämpfen“ müsse, um Aufträge, ums Überleben. Bei Grzimek habe er solche Ausbrüche jedoch nie erlebt.
Im März sollen die Skulpturen gezeigt werden, „Ein Platz für Grzimek“ wird die Ausstellung heißen, aber das soll die einzige Reminiszenz an die Tierfilmerverwandtschaft bleiben. Bevor die Werke aber in den fast klinischen Kunstraum des Museums kommen, werden sie inventarisiert. Die Luft ist zu kalt im gekälkten Speicherraum, als dass der Holzgeruch vom Dielenboden stärker werden könnte. Auf Paletten stehen die großen Arbeiten, auch ein, zwei Marmorfiguren, die weiße ist so elegant gehauen, dass sie von Ferne wie ein Gips wirkt. Dicht an dicht in den Metallregalen die kleineren Sachen, Köpfe, Tiere auch und Gruppen, die Gefache biegen sich. Uwe und Eva heißt, beinahe biblisch, ein Paar, und Arie Hartog setzt zuerst den kleinen Bronze-Mann auf einen Sockel.
Hartog, schlank, krause Haare, Brille und ein leicht gerötetes Gesicht – es ist wirklich kalt – ist Kurator am Bremer Gerhard Marcks Haus. Mit einem gelben Maßband checkt er die Höhe, die Breite sei unwichtig, sagt er, mit diesem leichten holländischen Akzent, der irgendwie immer Sympathien weckt. „Nein, mit Bremen hat Grzimek wirklich nichts zu tun.“ Weniger noch als Marcks, der ja die Stadtmusikanten und andere Bronzen dort im öffentlichen Raum platziert hat. Den Wahl-Kölner Marcks wiederum darf man als eine Art Mentor des fast 30 Jahre jüngeren Wahl-Berliners bezeichnen: Der Altmeister wäre nie auf den Gedanken gekommen, in die Sowjetische Besetzte Zone geschweige denn in die werdende DDR zu gehen. Aber Grzimek war ostentativ links, machte Wahlkampf für die SED, wohl auch „um seinen Vater zu treffen“, wie Heß vermutet, diesen Großbürgerlichen, „vor dem er einen Riesenrespekt hatte.“ Den durchaus konservativen Marcks störte das als echten Olympier wenig. Viel wichtiger war, dass er einen Fortsetzer seiner eigenen Tradition in Grzimek entdeckt hatte. Also setzte er sich dafür ein, dass Grzimek seine alte Stelle in Halle bekam.
Schon 1946 trat der an der Burg Giebichenstein an, mit 37 Jahren, als damals jüngster Kunstprofessor aller Zeiten.
Das mit dem Nachlass, erklärt Hartog, das sei „eine fast schon tragische Analogie“ zwischen den beiden: Marcks wünschte seine eigenen Werke in Berlin untergebracht – aber die Museen winkten ab. Folge: Die Figuren gingen nach Bremen, und Bremen bekam ein Bildhauermuseum. „Grzimek wollte in Berlin auch niemand.“ Nach Bremen passt er, weil er zu Marcks passt: „Wir stärken damit unser Profil.“ Davon, ein Gerhard-Marcks-und-Waldemar-Grzimek-Haus zu werden, sei man aber weit entfernt. Das Profil heißt Bildhauerei des 20. Jahrhunderts – mit besonderem Augenmerk auf die figürliche Tradition. Und vor allem: Marcks.
Galerist Netuschil reagiert leicht verschnupft, wenn man von Grzimek als einem weitgehend Vergessenen spricht. Das riesenhafte Werk, „das gepflegt werden“ müsse, erwähnt er mit Begeisterung, spricht vom offenbar an die Töchter aus beiden Ehen vererbten Künstler-Gen und davon, dass dieser Mann „ein begnadeter Bildhauer“ war, anerkannt bei Künstlern und mit großem Sammlerkreis. Und er stellt Fragen: „Haben die denn in Bremen überhaupt genug Platz?“, worauf so spontan keine Antwort einfällt, und ob die Sachen „jetzt alle vom Markt genommen“ würden? Das ja nun nicht, und von den Preisen her scheint es eher, als wären noch zu viele im Handel. Kleine Bronzen für um die 1.000 Euro, „das ist für Plastiken ziemlich moderat“, sagt Niklas Becker vom Berliner Auktionshaus Lehr. „Er bringt halt, was er bringt.“ Werk-Preise steigen wenn das Angebot klein ist, und die Ausstellungen häufig. Die letzte Grzimek-Ausstellung war 1998. Und der Markt hat kein gutes Gedächtnis.
„Schauen Sie sich diesen Po an“, sagt Hartog vorwurfsvoll. Fast 20 Jahre haben die Plastiken im Depot verbracht, und das hat Spuren hinterlassen. Die gilt es jetzt zu protokollieren, feine Kratzer von bewussten Ziselierungen zu unterscheiden, Patina-Fehler zu erkennen und durch den Blick ins hohle Bein der Standbilder zu ermitteln, ob es sich hier um einen Sandguss handelt, oder ob vielmehr das Wachsausschmelzverfahren angewandt wurde. Hartog ächzt, dass dieses Wort zu schreiben, ja wohl eine ziemliche Zumutung sei. Aber alles muss notiert werden auf dem Formblatt, für jede Plastik gibt es eines, auf dem auch der Standort des Werks im Depot festzuhalten ist: Zugleich bekommt jedes ein Halsband mit einem Karteikärtchen, das auf das Inventar verweist. Und es empfiehlt sich der konsequente Abgleich mit dem Werkverzeichnis: Von Grzimek gibt es einen Catalogue raisonné, das ist der absolute kunsthistorische Ritterschlag. Aber Eberhard Roters hat ihn 1979 verfasst, fünf Jahre vor Grzimeks Tod, und der Band ist dadurch nicht nur unvollständig. Auch die wissenschaftlichen Standards haben sich geändert: Zum Beispiel hat Roters offenbar die Größen von den Gips-Modeln ermittelt. Und heute misst man die gegossene Figur. Uwe ist in Wirklichkeit fünf Zentimeter kleiner als das Verzeichnis angibt, und Eva auch. Nicht erfasst wird das Gewicht der Statuen, obwohl hier Überraschungen zu erleben sind: Manche Kleinplastiken lassen sich kaum heben, und generell habe Grzimek offenbar viel Bronze verwendet, sagt Hartog, „verglichen beispielsweise mit Marcks, der ein sehr geiziger Mensch war“. Hartog vermutet, das sei wohl typisch ostdeutsch. Es kann natürlich auch eine Eigenart der jeweiligen Gießerei sein. Aber dass in der DDR-Kunst mehr Wert auf Gewicht gelegt worden wäre, hört sich reizvoller an.
Osten, Westen: Sich da einzusortieren, das ist Grzimek nie geglückt. „Die deutsche Misere“ nennt er das in einem Brief an Marcks, das ist 1958, während er an einem Mahnmal für Sachsenhausen grübelt. „Die Teilung hat ihn immer beschäftigt“, sagt Lydia Grzimek, und dass er „nie den Kontakt abgebrochen habe“, zur Tochter aus erster Ehe, zu Künstlerfreunden – auch nachdem er, bei Mauerbau, wieder in den Westteil Berlins gewechselt war. Wo man ihn doch dort zuvor mehr oder minder geschasst hatte: Nach Halle hatte er in Charlottenburg eine Professur bekommen. Aber jemanden, der Aufträge im Osten annahm, fand man dann dort nicht mehr tragbar. Grzimek wechselte an die Hochschule Weißensee, jenseits des amerikanischen Sektors. Um anzuecken: „Irgendwann“, erzählt seine Witwe, „hat er eingesehen, dass leider Gottes mit den Funktionären keine künstlerische Idee zu machen war.“ Im politischen Niemandsland, ästhetisch in der Bredouille: Im Westen herrschen Konkrete, Informell und andere Avantgarden, und figürlich heißt noch lange nicht: sozialistischer Realismus. Arbeiterfäuste? Nicht eine. Stattdessen Menschen, von der Schwerkraft erfasst und häufig sogar: überwältigt. Stürzende, Gefallene, Kauernde. Melancholische Kunst, der das Sackleinen gut steht. Hoffentlich kommt sie nicht zu spät.
Der Nachlass von Waldemar Grzimek wird gezeigt ab 5. März, Gerhard Marcks Haus Bremen, Infos: www.bildhauermuseum.de
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