: Tränen, Torte und viele Worte
Routiniert durchdekliniert und mit Hingabe performt: In Marc Evans’ Eröffnungsfilm „Snow Cake“ verschränken sich Schuld und Vergebung innigst. In Kanadas Einöde menschelt es – gut ausbalanciert und schwer tränentreibend
Sollten Eröffnungsfilme mehr als nur zufällig Eröffnungsfilme sein, sollten sie also repräsentativ für einen Wettbewerb sein und Fingerzeige in Sachen Qualität und Inhalt geben, dann lässt sich nach der Vorführung von Marc Evans’ „Snow Cake“ sagen: Der menschliche Faktor wird auf der Berlinale 2006 eine große Rolle spielen, menschliches Schicksal und Leid fernab von politisch-sozialen Umwälzungen. Das Leben in Reinform, wie es trotz aller Unbill zu ertragen ist. Und welcher Schauplatz eignet sich da besser als ein Örtchen in Kanadas Provinz, irgendwo an der großen Seenplatte?
Hierhin verschlägt es den Engländer Alex Hughes (Alan Rickman) nach einem schweren, von ihm nicht verschuldeten Autounfall. Dabei ist die junge Anhalterin Vivienne, die er an einer Raststätte aufgelesen hat, ums Leben gekommen. Alex sucht die Mutter der Toten, Linda (Sigourney Weaver), auf, um zu kondolieren und seine Schuldgefühle zu teilen. Das erweist sich als schwierig: Linda ist Autistin und als solche begrenzt aufnahmefähig und scheinbar nur begrenzt fähig zur Trauer – ihr ist wichtiger, dass Alex sich um den Müll kümmert, der immer dienstags abgeholt wird. Oder sie sich im Schnee wälzen und Schnee essen kann, für sie eine Art Orgasmus.
Der Autismus Lindas ist nur ein Motiv des Films, das routiniert durchdekliniert und von Weaver mit Hingabe performt wird. Selbstredend ist die Autistin nolens volens Therapeutin für Alex, dessen Selbstfindung nach harten Schicksalsschlägen im Zentrum von „Snow Cake“ steht: Mit Hilfe Viviennes, Lindas und der offen-attraktiven Nachbarin Maggie (Carrie-Ann Moss) arbeitet er Verdrängtes auf. Nach und nach entblättert sich sein Schicksal, nach und nach klären sich auch andere Fragen – etwa wie Linda als Autistin zu einer Tochter gekommen ist.
Erstaunlich, wie in diesem Film alles säuberlich ausgepuzzelt wird, wie sich Schuld und Vergebung innigst verschränken, kein Detail einfach nur Ornament ist. Das beginnt mit dem Autounfall zu Frees „It’s Allright Now“, setzt sich fort mit dem Song „Anthem for a 17 year old girl“ der kanadischen Band „Broken Social Scene“, geht weiter mit der Schneeleidenschaft Lindas oder dem Berufswunsch Viviennes: Schriftstellerin. Auf ihrer Beerdigung liest ihr Großvater ihre Kurzgeschichte über einen vierjährigen Autisten vor. Human touch, gut ausbalanciert, schwer tränendrüsenaktivierend. Am Ende bleibt selbst der Filmtitel nicht unerläutert. Linda bekommt von Alex eine Schneetorte, und soviel symbolisch-verkitschter Sex war wirklich lange nicht mehr. GERRIT BARTELS
„Snow Cake“, Regie: Marc Evans. CAN/GB, 112 Min. 10.2., 12 und 15 Uhr, Urania; 20 Uhr, International