: Neues Leben für alten Gassenhauer
PREMIERE Herbert Fritsch hat an der Volksbühne die uralte Operette „Frau Luna“ von Paul Lincke mit der berühmten „Luft, Luft, Luft“ neu inszeniert – und mit virtuos herausgespieltem Irrsinn flottgemacht
VON NIKLAUS HABLÜTZEL
Ein Fahrrad hängt hoch oben an Seilen, auf dem Sattel sitzt Herbert Fritsch und tritt die Pedale. Auf dem Gepäckträger faucht auch noch eine Rakete, aber das nützt nicht viel. So recht voran kommt er nicht, der Herr Regisseur, 62 Jahre alt, einst von Skandalen umwittert, inzwischen bejubelt als letzter Wilder, den das deutsche Theater noch hat. Er grüßt fröhlich hinunter zu uns, und dann explodiert irgendwas. Was genau, sieht man nicht, jedenfalls hängt Fritsch plötzlich allein in der Luft. Er zappelt verzweifelt, das Fahrrad taumelt gefährlich an einem anderen Seil unter ihm.
Irgendwie kommen die beiden dann doch wieder zusammen. Nichts ist passiert, und Fritsch strampelt wild entschlossen ab in die Kulissen. Ende der Vorstellung, Applaus endlos.
So ungefähr müssen auch die drei Berliner Typen samt Hauswirtin Pusebach auf den Mond gefahren sein, damals 1899, als Paul Lincke zum ersten Mal seine „Frau Luna“ aufgeführt hat, im Apollo-Theater an der Friedrichstraße, wo er als Dirigent fest angestellt war.
Mit seiner ewigen „Berliner Luft, Luft, Luft“ hat das Stück zwei Weltkriege und zwei deutsche Diktaturen glänzend überstanden. Jetzt endet es an der Volksbühne mit diesem Drahtseilakt auf dem Fahrrad, der mindestens so genial ist wie der Ballon, den Fritz Steppke aus der Mansarde der Frau Pusebach nach Feierabend gebaut hat.
Der ist nämlich geplatzt da oben auf dem Mond, wo es genau so zugeht wie in Berlin. Fritsch jedenfalls fühlt sich hier ganz und gar zu Hause. Mit Sabrina Zwach und Ingo Günther, der Dramaturgin und dem Musiker, die ihn schon seit Langem begleiten, hat er eine Fassung entwickelt, die in der Tat ein Akt auf dem Hochseil der Theaterkunst ist, halsbrecherisch balancierend zwischen Klamauk und Provokation über dem ständig drohenden Abgrund der Katastrophe.
Fritsch kommt hinüber, weil er darauf verzichtet, sich über Paul Lincke lustig zu machen. Ein Kunststück wäre das sicher nicht. So richtig ernst nehmen kann man diesen wilhelminischen Kassenschlager aber auch nicht. Es ist diese Leerstelle zwischen gleichermaßen langweiliger Erinnerung an die Geschichte und aktueller Dekonstruktion, die Fritsch besetzt und ihm erlaubt, zu voller Größe aufzulaufen.
Bewährte Mitglieder seiner Theaterfamilie (die Kostümbildnerin Victoria Behr, die Schauspieler Florian Anderer und Werner Eng unter anderen) helfen ihm dabei, unter Mitwirkung diesmal des Baritons Hubert Wild und der Sopranistin Ruth Rosenfeld. Beide haben begriffen, worauf es im Universum des Herbert Fritsch ankommt. Sie singen (als Prinz Sternschnuppe und Frau Luna) so extrem an der Grenze des Möglichen und Erträglichen entlang wie die anderen spielen.
Die im übrigen leere Bühne ist bevölkert von fratzenhaft geschminkten, mechanischen Aufziehpuppen. Sie zappeln und steppen, mal im Mieder, mal in großer Robe oder auch in Anzügen mit monströs überdimensionierten Schulterpatten. Kein Kalauer ist ihnen zu blöd, am liebsten greifen sie zwischen die Beine, ihre eigenen oder andere.
Der ganze Chor trägt sowieso nur hautfarbene Überzüge und sonst gar nüscht. Die Welt ist eine einzige Zote, das Schicksal ist ein „Fickschal“. Das Lied von der „Berliner Luft, Luft, Luft“ erstickt auf den zwei letzten Silben im lustvollen Stöhnen eines Orgienknäuls. Verboten ist allein, was nach gutem Geschmack und ernstem Bemühen auch nur riechen könnte. Es wären furchtbare zwei Stunden, wären sie nicht gefüllt bis zum Rand mit theatralischen Einfällen, die jeder für sich einer ausführlichen Analyse wert wären.
Oft zum Beispiel hängen sich Szenen in einer Endlosschleife auf und werden dann überblendet vom nächsten ebenso virtuos herausgespielten Irrsinn. So entsteht Tempo und Dynamik und so ganz nebenbei etwas fast Unmögliches: Paul Linckes Operette beginnt zu leben.
Nicht als modisch nostalgische Erinnerung, sondern ganz von innen heraus. Nicht ihre Form, ihr Geist ist es, der hier herumspukt, billig wie Günthers Diskoversionen der Noten auf dem Synthesizer, obszön und vulgär, aber auch menschlich und wahr auf ihre Berliner Art. Das ist die ganz große Kunst des Theaterspiels, für die es nun mal nur ein passendes Wort gibt: Es ist ein Wunder.
■ Nächste Aufführungen: 22., 27., 29. Juni und 5./6. Juli