: „Unser Land hat sich verändert“
BÜRGERRECHTE I Der Supreme Court der USA erklärt Teile des historischen Wahlgesetzes von 1965 für ungültig
AUS WASHINGTON DOROTHEA HAHN
Die alt gewordenen Frauen und Männer aus der Bürgerrechtsbewegung können ihr Entsetzen kaum verbergen, als sie mit zitternder Stimme die Entscheidung des obersten Gerichts kommentieren. Mit 5 zu 4 Stimmen haben die RichterInnen Teile des Wahlrechtsgesetzes gekippt, die einst mühsam erkämpft worden waren. „Traurig und schockierend“ sei dies, sagt John Lewis. Der heutige Kongressabgeordnete, Mitglied der Demokraten, war auf dem legendären Marsch der schwarzen Bürgerrechtler nach Selma im Bundesstaat Alabama im März 1965 so brutal zusammengeschlagen worden, dass er nur knapp dem Tod entkam. „Verheerend“ findet auch der Prediger Jesse Jackson, ein anderer Weggefährte von Martin Luther King, die Entscheidung. Und Barack Obama, der erste schwarze Präsident der USA, zeigt sich „tief enttäuscht“.
Das am 6. August 1965 von Präsident Lyndon B. Johnson unterzeichnete Gesetz war der größte politische Erfolg der Bürgerrechtsbewegung: Seine Paragrafen bahnten AfroamerikanerInnen den Weg an die Wahlurne, von der sie 69 Jahre lang durch rassistische Schikanen und Politik ferngehalten worden waren. Doch nun, am Dienstag, hat das Oberste Gericht verfügt, dass Punkt 4 des Gesetzes heute nicht mehr zeitgemäß sei. Punkt 4 legt fest, dass neun Bundesstaaten und eine Reihe von Bezirken in den USA ihr Wahlrecht nur mit Zustimmung der Bundesregierung ändern dürfen. „Unser Land hat sich verändert“, erklärte der Vorsitzende Richter John Roberts in seiner Begründung. Betroffen sind vor allem Regionen im Süden und Südwesten, die eine Tradition von Sklaverei (bis 1865) und eine Tradition von Wahlrechtsbeschneidungen (bis 1965) haben.
Mehrere Bundesstaaten im Süden kündigten sogleich an, dass sie ihr Wahlrecht verändern wollen. Dazu gehören Texas, North Carolina, Arkansas, Mississippi und Alabama.
Richter Antonin Scalia begründete seine Entscheidung gegen die bisherige Formulierung damit, dass das Gesetz „ethnisch begründete Vorrechte auf ewig“ festgeschrieben habe. Richterin Ruth Ginsburg wiederum kritisierte den Supreme Court – und damit die eigenen Kollegen – für seine „Überheblichkeit“ und seinen Mangel an Realitätsbezug.
Mit der Entscheidung des Supreme Courts ist die Möglichkeit, das Wahlrecht in den einzelnen Bundesstaaten unter Aufsicht der Bundesbehörden zu stellen, nicht grundsätzlich abgeschafft worden. Aber die Richter verlangen nun vom Kongress, zeitgemäßere Begründungen zu suchen. Die Chance, dass sich die tief zerstrittenen Republikaner und Demokraten darauf einigen können, sind jedoch minimal.